Niederlande:Frische Trauben aus Amsterdam

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Niederlandes Team beim Neustart gegen Frankreich Anfang September. (Foto: imago)
  • Seit sich der niederländische Fußball in der Ausbildung vom einst so verehrten offensiven Spielstil verabschiedet hat, bringt er wieder Talente hervor.
  • Ein bisschen Zeit, sagt der Ajax-Amsterdam-Trainer Erik ten Hag, werde die Nationalmannschaft noch brauchen, um sich wieder dem europäischen Spitzenniveau anzunähern.
  • Der junge Frenkie de Jong erinnert manche allerdings schon an Frank Rijkaard, andere an Johan Cruyff.

Von Benedikt Warmbrunn

Erik ten Hag war drei Monate alt, als alle Aussichten auf eine große Karriere als Nationalspieler bereits zerstört wurden. Drei Monate war er alt, als Mitte Mai 1970 Ronald de Boer auf die Welt kam und zehn Minuten später dessen Zwillingsbruder Frank. 20 (Frank) bzw. 23 (Ronald) Jahre später wurden die beiden in die niederländische Nationalmannschaft berufen, auf den Positionen, auf denen auch ten Hag begabt war, in der Innenverteidigung (Frank) beziehungsweise im defensiven Mittelfeld (Ronald). Berufen wurden in diesen Jahren außerdem Spieler wie Frank Rijkaard oder Edgar Davids. Nicht berufen wurde also: Erik ten Hag.

Die Niederlande, sagt ten Hag, 48, der Trainer von Ajax Amsterdam, habe immer großartige Generationen von Fußballern hervorgebracht, zu seinen aktiven Jahren, auch vor einem Jahrzehnt, als er seine Trainerkarriere startete; damals begann die Zeit von Arjen Robben, Wesley Sneijder oder Robin van Persie. Immer habe es diese großartigen Generationen gegeben - außer in der jüngeren Vergangenheit. Die Jahrgänge, die auf Robben, Sneijder und van Persie folgten, sagt ten Hag, "waren ein bisschen mittelmäßig". Es waren Jahrgänge, in denen ten Hag womöglich Nationalspieler geworden wäre, aber das sagt er nicht, dazu ist er zu zurückhaltend.

Ajax-Trainer ten Hag ordnet die Niederlande zurzeit "im Mittelfeld Europas" ein

Wenn am Samstag in Amsterdam die Niederlande auf Deutschland trifft, ist das für ten Hag ein Duell, das nicht so klangvoll ist wie in den vergangenen Jahrzehnten. "Die niederländische Nationalmannschaft ist zurzeit etwas desorientiert", sagt ten Hag, "sie weiß nicht genau, wo sie steht." Der Ajax-Trainer zumindest glaubt es zu wissen: "Sie muss im Mittelfeld Europas eingeordnet werden."

Verursacht haben diesen Niedergang aus ten Hags Sicht mehrere Gründe. Angefangen habe es damit, dass die herausragenden Talente fehlten. "Mit Fußballtalenten ist es wie mit der Weinernte: Mal hast du gute Trauben, manchmal sind auch schlechte dabei." Die wenigen guten Talente sind dann teilweise zu früh aus der heimischen Eredivisie geflüchtet. "Aber daran hat auch die Liga ihren Anteil", sagt ten Hag. In manchen Stadien wird auf Kunstrasen gespielt, wodurch die gesamte Liga an Attraktivität verloren hat.

Viel gravierender ist für ten Hag jedoch, dass der niederländische Fußball vorübergehend das vernachlässigte, wofür er weltweit immer bewundert worden war: die Ausbildung. "Das ist immer unsere Kraft gewesen. Aber da haben wir ein paar Jahre verschenkt, weil wir zu fest an unser statisches 4-3-3-System geglaubt haben", sagt ten Hag, der selbst nie allzu fest an dieses 4-3-3 geglaubt hat. "So konnte sich die Spielweise nicht mit den internationalen Standards entwickeln", findet er. Bei Ajax arbeitet der Trainer seit Jahresbeginn daran, der wichtigsten Vereinsmannschaft des Landes und dadurch einer ganzen Fußballnation beizubringen, dass die Schönheit eines Fußballspiels nicht allein in den Offensivaktionen liegt, sondern auch darin, eine stabile Defensive zu organisieren.

Ein bisschen Zeit, sagt ten Hag, werde die niederländische Nationalmannschaft noch brauchen, um sich wieder dem europäischen Spitzenniveau zu nähern. Dass ihr dies gelingen wird, da ist er aber sicher. Zur Auswahl von Trainer Ronald Koeman gehören zwei Stammspieler des FC Liverpool, Kapitän Virgil van Dijk und Georginio Wijnaldum, dazu Spieler wie Memphis Depay von Olympique Lyon. Der Älteste ist der frühere Hoffenheimer Ryan Babel, 31; fast die Hälfte des Kaders ist gerade einmal Anfang 20. Darunter sind auch zwei Trauben, die ten Hag besonders schätzt: seine Ajax-Spieler Matthijs de Ligt, 19, und Frenkie de Jong, 21.

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Manche vergleichen Ajax-Spieler Frenkie de Jong bereits mit Rijkaard

"Matthijs ist körperlich stark, spielintelligent und zweikampfstark - an so einem kommt kaum ein Gegner vorbei", schwärmt ten Hag. Als Ajax in der vergangenen Woche in der Champions League 1:1 beim FC Bayern spielte, war de Ligt so allgegenwärtig, dass ein Angreifer wie Robert Lewandowski in seinem Schatten verschwand. Von seinem Innenverteidiger ist der frühere Innenverteidiger ten Hag so begeistert, dass er ihn zum Kapitän ernannte, obwohl bei Ajax Routiniers wie Daley Blind oder Klaas-Jan Huntelaar im Kader stehen. Zunächst habe es darüber Diskussionen gegeben, erinnert sich ten Hag, aber an Diskussionen hat er sich als Ajax-Trainer mit Reformwillen ohnehin schnell gewöhnt: "Matthijs ist eine große Persönlichkeit, und als eine solche muss er gefördert werden." Zudem wollte ten Hag als Kapitän einen Mann, von dem er sich inhaltlich verstanden fühlt, "und mit Matthijs kann man sich gut über Taktik unterhalten".

Als früherer defensiver Mittelfeldspieler sieht ten Hag auch bei Frenkie de Jong Fähigkeiten, durch die dieser in jeder Generation auffallen würde: "Er ist ein Spielmacher, der von hinten kommt. Er ist unglaublich dribbelstark, hat aber auch ein richtig gutes Spielverständnis und eine sehr gute räumliche Wahrnehmung. Er sieht also immer Lösungen. Und wenn er mal keine sieht, dann dribbelt er los und findet eine." Manche vergleichen de Jong bereits mit Rijkaard, andere sogar mit Johann Cruyff. Im Sommer sollen sich Real Madrid und der FC Barcelona bereits erkundigt haben, was wohl de Jongs weitere Karrierepläne seien - noch konnte Ajax alle Anfragen ablehnen, genauso wie bei de Ligt. "Ich traue beiden eine große internationale Karriere zu", sagt ten Hag, "als Ajax-Trainer hoffe ich aber, dass sie noch ein paar Jahre bei uns bleiben." So egoistisch ist er dann schon, dass er nicht alles der Aufbauarbeit des niederländischen Fußballs unterordnen will.

© SZ vom 12.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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