NFL-Halbfinale:Geht es um Schutz oder um Spektakel?

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Konfuser Blick, unsteter Gang: Patrick Mahomes, Quarterback der Kansas City Chiefs, wird mit einer Gehirnerschütterung behutsam vom Platz geführt. (Foto: Jill Toyoshiba/ZUMA/imago)

Kurz nach seiner Gehirnerschütterung gilt Kansas-City-Quarterback Mahomes als fit genug, um gegen Buffalo aufzulaufen. Aus welchen Gründen die Liga ihre Regeln angepasst hat, wird heiß diskutiert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Vicis Zero1. So heißt der Helm von Patrick Mahomes. Der Umstand, dass am Donnerstag vor allem über diesen Football-Helm diskutiert wurde, zeigt, wie kontrovers und intensiv die Debatte über die Gehirnerschütterung des Quarterbacks der Kansas City Chiefs vor dem Halbfinale der NFL gegen die Buffalo Bills geführt wurde. Mahomes hielt den Helm nämlich in den Händen, als Journalisten bei einem Teil des Trainings anwesend sein durften. Später jedoch soll er ihn aufgesetzt und Übungen absolviert haben. Das hat deshalb Bedeutsamkeit, weil das Tragen des Helms die letzte Stufe des Fünf-Schritte-Programms bei Gehirnerschütterungen darstellt.

Mahomes war am vergangenen Sonntag beim Viertelfinalsieg in der National Football League (NFL) gegen die Cleveland Browns zu Boden gerissen worden, die Sekunden danach sahen gruselig aus: Er konnte sich nur mithilfe seiner Mitspieler erheben, die Beine wirkten, als seien sie gekochte Spaghetti, der Blick war konfus. Eine Gehirnerschütterung, darüber gab es keinen Zweifel, er spielte nicht weiter. Die Frage aber, ob er an diesem Sonntag gegen Buffalo würde auflaufen dürfen, war zuletzt zum Politikum in der NFL geworden, weil es darum ging, ob die US-Footballliga ihr Reglement angepasst hatte, um die Sicherheit zu vergrößern oder das Spektakel. Seit Freitagabend weiß man: Er darf.

Es gewinnen beim Sport nicht immer die Talentiertesten, Fittesten, Cleversten, sondern oft die, die ihre eigenen Grenzen verschieben und trotz Schmerzen die Kapitulation verweigern. Auch dieser Aspekt der Verletzung wird in der amerikanischen Sportszene derzeit lebhaft erörtert. Unvergessen ist zum Beispiel die Leistung der US-Turnerin Kerri Strug, die bei Olympia 1996 in Atlanta trotz einer Verletzung am Knöchel zu einem zweiten Versuch im Sprung antrat und ihrem Team die Goldmedaille sicherte. Das war medizinisch fragwürdig, letztlich aber Stoff für ein Heldenepos, das die Regisseurin Olivia Wilde gerade verfilmt.

Geschichten wie diese gibt es zuhauf, gewöhnlich werden Sportler verehrt, wenn sie verletzt antreten und wichtige Trophäen gewinnen: Fußball-Torwart Bert Trautmann (gebrochene Halswirbel), Eishockeyspieler Bobby Baun (gebrochener Knöchel), Baseball-Schlagmann Kirk Gibson (gerissener Oberschenkel). Mahomes, 25, absolviert erst seine vierte Saison. In der vergangenen Spielzeit wurde er Meister mit den Kansas Chiefs und zum wertvollsten Spieler gewählt. Er dürfte seiner noch jungen Karriere nun ein dramatisches Kapitel hinzufügen und seinen Megavertrag (bis zu 503 Millionen Dollar über zehn Jahre) rechtfertigen, der es ihm wegen der Verletzungsgefahr übrigens verbietet, ein Trampolin zu besteigen.

Ob er spielen kann oder nicht, das durfte Mahomes nicht selbst entscheiden. Die NFL hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Regeländerungen vorgenommen. Sie hat zum Beispiel festgelegt, wann und wie Offensivspieler attackiert werden dürfen; das missfällt vor allem den Verteidigern und führt zur Frage: Wurden die Änderungen herbeigeführt, um die Verletzungsgefahr zu verringern, oder weil spektakuläre Spielzüge wahrscheinlicher sind, wenn einer wie Mahomes nicht fürchten muss, brutal zu Boden gerammt zu werden? Und gibt es diese Regeln vielleicht auch deshalb, damit die bekanntesten Akteure in den Playoffs, also genau jetzt, möglichst unversehrt für Momente sorgen, die später verfilmt werden? Die Meinungen von Experten gehen da weit auseinander.

Bei Gehirnerschütterungen greift ein Fünf-Punkte-Plan. Erste Phase: Ruhe!

Seit die NFL vor einigen Jahren einen Zusammenhang zwischen den im Football üblichen Zusammenstößen und langfristigen Gehirnverletzungen anerkennen musste, gibt es nun einen Fünf-Stufen-Plan bei Gehirnerschütterungen: Zuerst Ruhe. Dann leichte Aktivität, Krafttraining, footballspezifische Übungen ohne Körperkontakt, Teilnahme am Training. Wenn ein Akteur eine Stufe absolviert hat, wird er von den Mannschaftsärzten untersucht und für die nächste freigegeben; über den Zustand von Mahomes ist in dieser Woche berichtet worden wie über ein Hollywoodpaar mit Scheidungsgerüchten: Jeder Schritt wurde interpretiert, also auch, wo genau Vicis Zero1 gerade war. Am Donnerstag: auf dem Kopf von Mahomes. Stufe fünf.

Dies bedeutet, dass Mahomes trainierte und dass er danach von einem unabhängigen Arzt untersucht wurde. Das gefiel nicht jedem, Chiefs-Trainer Andy Reid sagte am Montag: "Früher wäre Patrick vielleicht schon während der Partie zurück aufs Spielfeld gekommen. Ihr habt doch gesehen, wie er zur Umkleide gelaufen ist, da hat er sich schon ziemlich gut gefühlt. Aber es gibt da gewisse Regeln, an die wir uns halten müssen: Die Entscheidung wird dem Spieler und dem Physiotherapeuten entrissen und in die Hände eines Arztes gelegt." Reid sagte, was nicht nur Chiefs-Fans denken: Ein Profisportler soll gefälligst selbst über seinen Körper entscheiden dürfen und darüber, ob er spielen kann.

Dagegen sprechen wissenschaftliche Studien, vor allem jene über die langfristigen Folgen von Gehirnerschütterungen. Diese Verletzung ist kaum zu vergleichen mit anderen, etwa Knochenbruch oder Bänderriss; der Heilungsverlauf kann nicht einfach per Röntgenaufnahme überprüft werden. Die durchschnittliche Pause für Quarterbacks liegt bei sieben Tagen, weshalb die Chiefs alles daran setzten, Mahomes für fit zu erklären, aber nicht zu forsch zu wirken: Reid sagte nach dem Training: "Er sieht gut aus da draußen, bewegt sich flüssig, fühlt sich gut." Und: "Wir halten uns ans Protokoll."

Am Freitagabend bekam Mahomes grünes Licht, er darf spielen. Eine Prognose für die Partie: Die Buffalo Bills werden gleich im ersten Viertel überprüfen, ob Mahomes im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. Trainer Sean McDermott dürfte seine Verteidiger auf den gegnerischen Spielmacher loslassen, die NFL ist nicht bekannt dafür, angeschlagene Spieler zimperlich zu behandeln oder gar zu schonen - im Gegenteil: Jede mögliche Schwäche des Gegners wird attackiert. Wie gut, dass der Vicis Zero1 als einer der sichersten Helme der Welt gilt.

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