Nationalelf: René Adler:Im Zweikampf mit sich selbst

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Ist der Kampf ums WM-Tor doch noch offen? Mit seinem neuerlichen Patzer belebt Leverkusens Adler die Torwartdebatte. DFB-Sportdirektor Sammer lobt bereits einen Konkurrenten.

Philipp Selldorf

Typisch für die gegenwärtige Situation des Nationaltorwarts René Adler war jene vollkommen unbedeutende Szene während der späten ersten Halbzeit im Spiel gegen den Hamburger SV. Adler eilte einem Ball hinterher, der Richtung Grundlinie rollte. Er wollte den drohenden Eckstoß verhindern, und das sollte auch kein Problem für ihn sein, denn der Ball hatte nicht allzu viel Fahrt. Adler warf sich also zur Seite, schnappte sich die Beute - und glitt mitsamt der Kugel über den nassen Rasen ins Aus.

Franz Beckenbauer und Matthias Sammer haben zu diesem signifikanten kleinen Missgeschick keinen Kommentar abgegeben, auch Rudi Völler und Jupp Heynckes haben es mit keiner Silbe erwähnt. Selbst der Schiedsrichter enthielt sich der fälligen Stellungnahme - er hatte nicht erkannt, dass der Ball die Linie überquert hatte. Aber das hat Adler auch nicht mehr geholfen, denn die Koryphäen hatten längst genug gesehen.

Dazu genügte bereits jene Szene in der 33. Minute, als Adler den Zweikampf mit seinem Abwehrchef Sami Hyypiä verlor, was dem Hamburger Zé Roberto eine unverhoffte Gelegenheit zum Schuss ins leere Tor bot, die er prompt und höchst elegant nutzte. "Das sieht natürlich blöd aus", gab Adler später zu, und Franz Beckenbauer mochte ihm da in seiner Rolle als Kommentator beim Bezahlfernsehen nicht widersprechen. "Wenn einer in der Schülermannschaft so einen Fehler macht, sagt man zu ihm: ,Such' dir eine andere Sportart'", stellte Deutschlands führende Fußballmeinungsmacht fest.

Hurra. Deutschland ist wieder mittendrin in seinem Lieblingsthema. Als Andreas Köpke vor zwei Wochen im Namen des DFB-Trainerteams Adlers amtliche Beförderung zur Nummer eins im WM-Kader verkündete, stand dahinter die gute Absicht, dem Volksvergnügen Torwartdebatte ein Ende zu bereiten. Stattdessen ist das Gegenteil geschehen, die Diskussion hat nun erst begonnen, wie nicht nur Beckenbauer bemerkt hat.

"Adler ist ein guter Torwart", sagte er, "aber seitdem er weiß, dass er die Nummer eins ist, macht er einen Fehler nach dem anderen." Die jüngsten Spuren seiner mehr oder weniger folgenreichen Missgriffe ziehen sich durchs ganze Land: Bremen, München, Nürnberg, Leverkusen.

Am Sonntag machte René Adler den Eindruck, als befände er sich im Zweikampf mit sich selbst. Er faustete die Flanke mit dramatischer Geste ins Feld statt sie wie üblich geschmeidig einzufangen; er ließ einen harmlosen Schuss fallen, statt ihn festzuhalten; er schlug übereifrig Bälle nach vorn, wo kein Mitspieler stand. Lauter nichtige, aber vielsagende Kleinigkeiten, die ihm selbst am peinlichsten sind. Adler bedankte sich später bei seiner Elf, "die mich momentan mit durchschleppt. Ich hoffe, es kommen wieder die Tage, an denen ich das der Mannschaft mit Leistung zurückzahlen kann".

Adler durchlebt derzeit den ersten anhaltenden Knick in der Leistungskurve, seitdem er vor drei Jahren Jörg Butt aus dem Bayer-Tor vertrieben hat. Währenddessen erleben seine Konkurrenten Manuel Neuer in Schalke und Tim Wiese in Bremen in jedem Spiel aufs Neue Hochgefühle.

Die Herausforderer zeigen auch keine Tendenz an, sich der vom Bundestrainer aufgestellten Rangordnung unterwerfen zu wollen. Neuer hat nach Schalkes Sieg gegen Stuttgart mit militanter Ignoranz ausgesagt, er verfolge "nach wie vor" den Wunsch, während der WM im Tor zu stehen. "Ich werde in der Bundesliga und im Pokal Vollgas geben und dadurch meine Bewerbung abgeben", versicherte er.

Sein glänzender Auftritt gegen den VfB setzte zehn Ausrufezeichen hinter diese Ambitionen, "er scheint von der ganzen Situation zu profitieren", staunt Beckenbauer. "Manuel hat uns wieder das Spiel gewonnen", lobte Trainer Felix Magath, der ein Anhänger von Neuers hyperagiler Spielweise ist: "Der Torwart ist mein Libero."

Der größte Fan des Schalker Torwarts ist allerdings beim DFB beschäftigt, was die neue deutsche Torwartdebatte um eine interessante Note bereichert. DFB-Sportdirektor Matthias Sammer hatte sich bereits vorige Woche in den Diskurs eingeschaltet, als er Jens Lehmann empfahl, seinen skurrilen Wunsch, mit dem DFB-Team zur WM zu fahren, ab sofort für sich zu behalten. Adler werde womöglich nervös durch Lehmanns Erzählungen, meinte Sammer und riet dem Bundestrainer zu einem Anruf beim VfB-Torwart, um für Ruhe zu sorgen. Aber für Unruhe braucht Löw gar keinen Lehmann. Dazu genügt auch ein Sammer.

Am Sonntag hat der DFB-Sportdirektor in Anbetracht von Adlers überstürztem Auftritt zwar gnädig festgestellt: "Bei jungen Menschen spielt die Psyche immer eine große Rolle. Im Moment zeigt er Nerven - aber besser jetzt als bei der WM." Doch diese milde Rede erwies sich als trügerischer Trost, als Sammer gleich im nächsten Satz zu einer radikalen Hymne auf Manuel Neuer ansetzte, dessen Torwartkunst er offenbar noch viel höher schätzt.

Neuer sei der "Torwart der Zukunft", schwärmte Sammer, ein Affront des DFB-Sportchefs gegen den DFB-Cheftrainer Löw. "In zwei, drei Jahren wird Manuel Neuer der beste Torwart der Welt sein", das hat Sammer außerdem gesagt. Zwar nicht am Sonntag. Aber vor zwei Jahren. Zumindest seine Frist wäre erreicht.

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