Deutsche Nationalelf:Späte Tanzeinlage mit Oranje

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  • Deutschland startet positiv in die Qualifikation zur Euro 2020. Beim 3:2 in Holland überrascht Bundestrainer Löw mit defensiver Aufstellung.
  • Zumindest eine Halbzeit lang glänzt dann aber vor allem die Offensive.
  • Erst in der zweiten Hälfte häufen sich Probleme - kurz vor Ende trifft ein Hoffenheimer.

Von Benedikt Warmbrunn

Wenige Minuten blieben noch, Ilkay Gündogan nutzte sie für eine Tanzeinlage. Er drehte sich mit dem Ball um sich selbst, dann hatte er genug getanzt. Er sah die Lücke. Ein feiner Pass durch die Lücke in der niederländischen Abwehr zu Marco Reus, der direkt die nächste Lücke sah. Ein Pass in die Mitte, dort wartete Nico Schulz, der den Ball nur noch einschieben musste.

In der 90. Minute sah Bundestrainer Joachim Löw die Emotionen, die er früher am Abend gefordert hatte. Gündogan, Reus, Schulz und alle anderen aus Löws Mannschaft rannten jubelnd über den Rasen. Spät war ihnen ein weiteres Tor gelungen, nach einer starken ersten und einer schwächeren zweiten Halbzeit, nach einer verdienten 2:0-Führung und einem genauso verdienten Ausgleich. Das Tor von Schulz war das zum 3:2 (2:0)-Endstand, und es rettete nicht nur den Abend, sondern auch den Start eines Projekts, das am Sonntag in Amsterdam das erste Mal ernsthaft geprüft wurde.

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Die DFB-Elf startet mit einem 3:2 gegen die Niederlande in die EM-Qualifikation. Nach starkem Beginn klappt in der zweiten Hälfte immer weniger - doch dann trifft Nico Schulz.

"Es ist ein Prozess, den so eine junge Mannschaft durchläuft", sagte Löw nach der Partie. "Mit einem guten Angriff haben wir die Entscheidung noch herbeigeführt. Wir haben den Glauben nicht verloren. Heute hatten wir das Spielglück, das uns in den vergangenen Spielen gefehlt hat." Schulz, der Siegtorschütze, sagte zur entscheidenden Szene: "Ich habe alles in meinen rechten Huf gelegt, und der Ball ist reingegangen."

Die Niederlande gegen Deutschland, in Amsterdam, das war nicht einfach nur der Auftakt für die deutsche Nationalelf in die EM-Qualifikation. Es war auch ein Test, wie weit fortgeschritten die Neuerfindung der Mannschaft ist, an die sich Bundestrainer Joachim Löw gemacht hat. Fast alle großen Fußballnationen Europas hatten in den vergangenen Jahren ihre Teams verjüngt, die Engländer, zuletzt die Italiener.

Und eben die Niederländer, die im vergangenen Oktober in Amsterdam 3:0 gegen die deutschen Weltmeister von 2014 gewonnen hatten. Erst danach war Löw einsichtig gewesen. Nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 hatte er Fehler eingestanden, nennenswert verändert hatte er aber weder das Team noch sich selbst. Erst nach diesem 0:3 in Amsterdam trennte er sich von Routiniers, veränderte er sein System und setzte er auf junge Spieler.

Wie ernst es ihm mit dieser Neuerfindung der Mannschaft (und seiner selbst) ist, verdeutlichte Löw am Sonntagabend. Er stellte eine Dreierabwehrkette auf. Er nahm Timo Werner als vordersten Angreifer heraus, für ihn spielte Leon Goretzka. Eigentlich ist Goretzka ein Mittelfeldspieler, aber Löw lobte vor der Partie, dass dieser auch "in die Tiefe reinstoßen" könne. Zwei Dinge wolle er sehen, sagte der Bundestrainer noch. Erstens: dass seine Mannschaft mutig nach vorne spiele. Zweitens: dass seine Spieler emotional auftreten. Löw sagte: "Wir haben auch unsere PS, die wir auf die Straße bringen müssen."

In das 0:3 im Oktober war die deutsche Delegation etwas selbstverliebt hinein gegangen. Nun setzte Löw auf eine dynamische Truppe, die sich für schnörkellose Eigenschaften wie Einsatz und Leidenschaft nicht zu schade ist. Am Sonntagabend demonstrierte sie, was sie mit ihren PS anstellen kann. Zumindest eine Halbzeit lang.

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Es dauerte 100 Sekunden, bis Löws Spieler ihre Geschwindigkeit ein erstes Mal einsetzten. Leroy Sané dribbelte sich auf der linken Seite durch, passte in die Mitte zu Serge Gnabry, und der verlor auch nicht viel Zeit. Seinen Schuss parierte der niederländische Torwart Jasper Cillessen jedoch noch. Der Angriff zeigte aber ein Muster, das die Gäste immer wieder vor das gegnerische Tor führen sollte. Balleroberung, ein zügiger Angriff, Torschuss. Keine Schnörkel, keine langen Passstafetten. Keine Erinnerungen an diesen verhängnisvollen Abend im Oktober.

Hatten die Gastgeber den Ball, attackierten die Deutschen früh und aggressiv, als vorderster Verteidiger agierte oft Goretzka. Die jugendliche Frische der Niederländer konnte sich dadurch nur selten entfalten. Die deutsche Elf war zunächst klar besser, und so ging sie auch verdient in Führung. Nico Schulz flankte, der niederländische Innenverteidiger Matthijs de Ligt rutschte aus, Sané stand plötzlich alleine im Strafraum, und das ließ er sich nicht entgehen: Er traf sehenswert (15.).

Es folgt die einzige Phase in der ersten Halbzeit, in der Löws Mannschaft Schwierigkeiten hatte, gelegentlich auch selbst verschuldet. Dann stand die Abwehr unsortiert oder ein leichter Fehler zerstörte die gesamte Struktur. Manuel Neuer klärte zweimal gegen Ryan Babel (25., 27.). Es war ein Vorgeschmack auf das, was die deutsche Elf in der zweiten Halbzeit erwartete.

Bis zur Pause jedoch blieben die Gäste die gefährlichere Mannschaft. Und zwar dann, wenn es schnell und direkt ging. In der 34. Minute spielte Antonio Rüdiger einen langen Ball zu Gnabry, dieser zog von der linken Strafraumseite in die Mitte, ein bisschen bewegte er sich sogar vom Tor weg. Ihn verfolgte der niederländische Kapitän Virgil van Dijk, dieser von Angreifern aller Altersklassen gefürchtete Innenverteidiger. Gnabry aber dribbelte weiter, van Dijk kam ihm nie richtig nahe. Dann entschied Gnabry sich für einen mutigen und äußerst kunstvollen Schuss. Der Ball landete im oberen Torwinkel.

"Die erste Halbzeit war klasse, weil wir das Spiel absolut unter Kontrolle gehabt haben", lobte Löw.

Gnabry fand sogar: "Die erste Halbzeit war sensationell von uns." Die Straße, auf die die deutsche Elf in der ersten Halbzeit so erfolgreich ihre PS gebracht hatte, erwies sich in der zweiten Halbzeit als eine, auf die auch die Niederländer ein ordentliches Tempo bringen können. Überlegt strukturierten die Gastgeber ihre Angriff, sie deckten ein paar Anfälligkeiten im deutschen Spiel auf. In der 48. Minute erzielte de Ligt mit dem Kopf den Anschlusstreffer, nach einer Flanke von Memphis Depay. "Das war zu einem sehr, sehr ungünstigen Zeitpunkt", sagte Löw nach dem Abpfiff, "das hat den Holländern ein bisschen Aufrieb gegeben." Eine Viertelstunde später traf Depay selbst, nach zuvor chaotischen Zuständen im deutschen Strafraum.

Löws Mannschaft zog sich weiter zurück, das war kein mutiger Auftritt mehr. Doch es reichte zumindest, um diesen jugendlichen, schwungvollen Niederländern keinen Raum mehr für ein weiteres Tor zu geben.

In dieser Phase waren die Gastgeber, gestand Gnabry, "brutal am Drücker".

In der 70. Minute kam Gündogan für Goretzka, in der 88. Minute Reus für Gnabry. In der 89. Minute nutzte Gündogan die Zeit für ein Tänzchen, er sah Reus. Der wiederum erkannte, dass Schulz mit seinem rechten Huf mutig nach vorne gelaufen war. Und dann sah Löw wieder die von ihm geforderten Emotionen.

© SZ vom 25.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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