Linus Straßer war fünf Jahre alt, als ihn sein Vater von dessen Wohnung in Kitzbühel aus zum Skilaufen mitnahm, und der Bub hatte schon damals ein Faible für alles, was abseits der Piste lockte. Er fuhr am liebsten auf Buckelpisten, im Tiefschnee, über Wellen; er hat sich die Faszination für die vielen Schönheiten seines Sports bis heute erhalten. Am Mittwochabend, in Garmisch-Partenkirchen, fand Straßer insofern eine faszinierende Spielwiese vor, mit Buckeln und Wannen, in denen man im zweiten Lauf problemlos eine Ziegenherde aus einem der Streichelzoos im Umland hätte verstauen können. "Die Piste war extrem schwer zu fahren", sagte Straßer später, es war noch eine der freundlicheren Rezensionen des Abends.
Sein Genuss hielt sich am Ende jedenfalls in Grenzen: Straßer hatte es im zweiten Lauf, in bester Ausgangslage, abgeworfen. So endete der Tag mit weniger erbaulichen Nachrichten für den Deutschen Skiverband (DSV): Straßer und Lena Dürr, die den deutschen Alpinen bislang die einzigen Podestbesuche des Winters beschert hatten, rutschten mit Nullnummern ins neue Jahr. Während Dürr in Zagreb im ersten Lauf ausgeschieden war (und Mikaela Shiffrin ihren 81. (!) Weltcup gewann), kämpfte sich Straßer am Gudiberg bis zur vorletzten Zwischenzeit vor, ehe er ausschied. Er attestierte sich trotz allem einen "starken Jahresauftakt", und das war nicht einmal vermessen.
Eine ähnliche Tapferkeitsmedaille hatten sich zunächst einmal alle verdient, die in den vergangenen Wochen geschuftet hatten, das weiße Band am Gudiberg so zu präparieren, dass es für 71 Athleten halbwegs trug, dann noch mal für die 30 Besten im zweiten Lauf. Sie hatten bis zuletzt Salz auf die Piste gestreut, um dieser Wasser zu entziehen und sie zu härten, es war ein Slalom gegen die Zeit. Zwei Stunden vor Beginn gab Markus Waldner, der Renndirektor des Weltverbandes Fis, dann seinen Segen. Erleichterung war zu spüren, aber auch die Erinnerung daran, welche Zukunft dem Wintersport mit der Klimaerwärmung künftig blüht. Beziehungsweise: wie er längst fest mitten darin steckt.
Wer früh im ersten Lauf dran war, wie die Besten der Welt, hatte trotz allem einen gewaltigen Vorteil. Die dünne Schicht auf der Piste brach nach wenigen Fahrern, darunter quoll ein "Gries" hervor, wie ihn Manuel Feller nannte; für den Österreicher fühlte sich die Fahrt darauf an, "wie wenn du a Holzbrett ins Wasser schmeißt". Die wenigen Starter, die zuvor an der Reihe waren, nutzten ihren Vorteil dann auch fast alle aus: Henrik Kristoffersen erschuf die Bestzeit, Straßer folgte sieben Zehntelsekunden dahinter. "Die eigentliche Aufgabe", wusste er freilich, "wartet im zweiten Durchgang": Wenn die Besten als Letzte starten und eine zerfurchte Piste vorfinden, die nun auch Qualitäten im Buckelpistenfahren verlangte.
Beim nächsten Mal? "Werde ich es genauso wieder probieren", sagt Straßer
Stefano Gross nutzte die noch stabile Piste im zweiten Lauf am besten, der 36-jährige Italiener, zuletzt durch viele Täler gecarvt, setzte die Bestzeit, nach Rang 26 im ersten Lauf. Gross sah, wie die Kollegen danach immer heftiger über den Schnee schlingerten, obwohl sie immer mehr Vorsprung mitbrachten, eine Sekunde, eineinhalb, zwei. "Katastrophe", fiel dem Österreicher Marco Schwarz im Ziel aus dem Mund, in der ersten Wut. Der Schweizer Daniel Yule, Fünfter nach dem ersten Lauf, schaffte es offenbar besser, sich von den Bedingungen nicht irritieren zu lassen, er überbot Gross um acht Hundertstelsekunden. Manuel Feller, offenbar nicht nur ein Kenner des Holzbrettfahrens, sondern auch einer für schwere Spezialeinsätze, packte noch eine halbe Sekunde drauf.
Und Straßer? Der 30-Jährige hat solche Pisten schon oft gezähmt: Wenn die Wannen rund um die Tore so tief und fest sind, dass man darin Halt findet und sich darin sogar abdrücken kann, fast wie in einer Steilwandkurve. Und wie er sich dann auf diese Abenteuerpiste am Gudiberg warf. Er rauschte über den Starthang wie ein Löwe, surfte über die Buckel, nicht gerade anmutig, aber es war schnell, mehr als eine Sekunde lag er vor Feller. Die 7000 Zuschauer im Tal schickten eine Welle der Ekstase den Berg hinauf, aber gerade, als diese richtig anzuschwellen schien, erstarb sie - eine Unachtsamkeit, und Straßer hatte die Kontrolle verloren. Aus und vorbei.
So blieb noch eine Demonstration von Kristoffersen, des Führenden nach Lauf eins, der solche Bedingungen aus Norwegen kennt und liebt: Er pflügte über die Buckel, als seien die für ihn um die Hälfte zusammengeschrumpft, am Ende hatte er allein 1,22 Sekunden Vorsprung auf Feller. Straßer gab sich derweil Mühe, seine gefühlte Niederlage in einen Erfolg umzudeuten. "Ich bin den zweiten Lauf so angegangen, dass ich um den Sieg mitfahre", sagte er, da müsse er sich nun mal ins Risiko stürzen. Dann zählte er noch auf, was er noch immer im Gepäck mit sich trage, für die kommenden Rennen im Januar: "Ich hab grad' einen guten Speed, ich steh gut am Ski", sagte er, "ich werde es in Adelboden genauso wieder probieren."
Die Voraussagen dort waren bis zuletzt übrigens: ähnlich warm und buckelig.