Joe Thomas ist mit seiner Frau, vier Kindern und 21 Koffern nach München gereist - denn mehr Koffer, sagt der 39-jährige, hätten sie nicht mitnehmen dürfen. Er hat in den US-Bundesstaaten Wisconsin und Ohio gelebt und war vor der Abreise fast verzweifelt, als er die Tücken auf dem Münchner Mietmarkt kennenlernte. Über die sozialen Medien fragt er jetzt nach, wo man in der Gegend gut Yoga betreiben und zum Jagen gehen könne. Alles spricht also dafür, dass Joe Thomas seine neue Aufgabe in München sehr ernst nimmt - und dass er vielleicht sogar länger als nur ein Jahr bleibt. "Ich habe hohe Ansprüche an mich selbst, und ich spüre da auch Druck", sagt er. Das allerdings klingt ein wenig nach Understatement angesichts seiner Karriere.
Es kommt immer wieder mal vor, dass eine Football-Koryphäe nach Deutschland kommt, um ihr Wissen weiterzugeben. Meistens sind es Trainer kurz vor dem Ruhestand. Joe Thomas spielte bis 2018, und er ist, auch wenn er wie viele andere auf seiner Position nach der aktiven Karriere Dutzende Kilo verlor, ein echtes Schwergewicht. Er gilt als einer der besten Left Tackles überhaupt - eine Art Bodyguard, der den Quarterback vor Angriffen schützen und Lücken für Ballträger aufreißen soll. Thomas hat zwar nie einen Titel gewonnen. Das liegt aber vor allem daran, dass er dem lange Zeit chronisch erfolglosen Team der Cleveland Browns stets treu blieb.
So treu, dass er einen individuellen Rekord aufstellte: Thomas stand ohne Pause für 10363 Spielzüge in Serie auf dem Feld, ehe ihn 2017 seine erste Verletzung ereilte. Er ist zehnmaliger Pro-Bowler, also Teilnehmer des alljährlichen Allstar-Spiels der NFL, und er wurde vergangenes Jahr in die Hall of Fame aufgenommen. "Wie glücklich können wir uns schätzen, dass uns so jemand in den Schoß fällt", schwärmt Ravens-Sportdirektor Sean Shelton. Spielen, sagt Thomas, könne er leider nicht mehr, ihn plage eine Arthritis. Aber er kommt nicht einmal als Cheftrainer, sondern als Lineman-Coach, als Co-Trainer also für die Spieler auf seiner ehemaligen Position.
Während seiner offiziellen Vorstellung am Dienstagvormittag wendet sich Thomas einmal an den Manager der Ravens, Sebastian Stolz: "Hattest du damals wirklich gewusst, dass ich es ernst meine?" Sie hatten wohl Schwierigkeiten gehabt, es überhaupt zu glauben, dass einer wie Thomas in der European League of Football (ELF) arbeiten will. Noch dazu bei den frisch geschlüpften Ravens, die gerade erst vor ihrer zweiten Spielzeit stehen.
Die Ravens geben mal wieder fast wöchentlich prominente Verpflichtungen bekannt
Dass es so weit kam, liegt vor allem an der Expansion der NFL, die seit 2022 Ligaspiele in Deutschland austrägt. Thomas kam zum ersten Spiel vor 14 Monaten nach München, er erzählt ausführlich, wie überrascht und begeistert er vom Hype rund um die Partie der Tampa Bay Buccaneers gegen die Seattle Seahawks war. Geholfen hatte dabei auch, dass der TV-Kommentator und Chef der ELF, Patrick Esume, 2007 in Cleveland als Co-Trainer arbeitete, als Thomas gerade bei den Browns begann.
Nach dem Spiel bat Thomas Esume, ihm einen Job zu vermitteln - und zwar nirgendwo anders als in München. Die ELF-Saison beginnt im Juni, das Training wurde aber schon aufgenommen. Zurzeit befinden sich die Ravens, mal wieder, in einer Phase, in der sie fast wöchentlich in der Branche prominente Namen als neue Verpflichtungen bekannt geben.
Das alles bedeutet noch lange nicht, dass Thomas' Trainer-Debüt in einer Erfolgsgeschichte mündet. Gerade besonders ambitionierte Trainer, die aus den USA nach München kamen, egal ob im American Football oder im Baseball, waren schnell desillusioniert, als sie merkten, dass viele ihrer Ansprüche in einem Amateurbetrieb schnell ins Leere laufen. Auch er habe sehr hohe Ansprüche an die Spieler, sagt Thomas, der seine lange Pflichtspielserie damit erklärt, dass er das extreme Arbeitsethos seines Vaters übernommen habe - nun wolle er es weitergeben. Thomas' Verpflichtung ist also auch ein Experiment, wie professionell die ELF und die Ravens schon sind.
Was die Trainer-Hierarchie angeht, so will sich Joe Thomas gar nicht verstecken: "Nichts soll unausgesprochen bleiben", sagt er auf Nachfrage. Wenn er das Gefühl habe, dem Cheftrainer Kendral Ellison etwas sagen zu müssen, dann werde er das tun. Manager Stolz ergänzt, dass man ihm auch stets gut zuhören werde.
Wenn alles klappt und die ELF expandiert, könnte für Thomas auch eine Funktionärs- oder Managerkarriere bevorstehen. Das sagt er so zwar noch nicht, erst einmal gehe es darum, Spielern den Traum von der NFL zu ermöglichen. Dass die ELF für die Besten zum Sprungbrett werden könnte, dass also die Qualitätsgrenzen zwischen Europa und USA ein wenig aufweichen, das ist mit der Verpflichtung von Joe Thomas zumindest ein bisschen wahrscheinlicher geworden.