München-Marathon:Der Geburtsort einer Legende

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Den Applaus bekommt Frank Shorter bei seinem Marathon-Olympiasieg 1972 in München nicht, sein Ziel aber hat er trotzdem erreicht. (Foto: PCN Photography/Imago)

Frank Shorter gewann 1972 den Olympischen Marathon, obwohl er nur als Zweiter ankam. Und das ist nicht die einzige Erinnerung, von der der US-Amerikaner bei seiner Rückkehr anlässlich des München-Marathons erzählt.

Von Andreas Liebmann

50 Jahre danach betritt Frank Shorter erstmals wieder das Olympiastadion. Weder Applaus noch Pfiffe sind diesmal zu hören, als er in die Sonne schreitet. Nichts, nur etwas Baulärm vom Aufbau für den München-Marathon an diesem Sonntag. Unter dem blauen Schild "Ehrengäste" führt ihn sein Weg hindurch, nicht mehr unten durch das große Marathontor wie einst. Er blickt von hier oben auf die Tribünen mit den lindgrünen Schalensitzen, die diesmal leer sind. Geht die Stufen hinab auf die Laufbahn. Es sei wie Heimkommen, hat er zuvor gesagt, hierher, wo alles begann. Und wie viel es ihm bedeute, dass seine Frau Michelle nun miterleben werde, wie er hier ein zweites Mal die Ziellinie betritt.

Wer es nicht weiß, muss ja erst einmal auf diese Idee kommen: Dass der Einzige, dem es 1972 in München gelang, einen Olympiasieg in seiner Geburtsstadt zu feiern, keineswegs ein Deutscher war, sondern ein Marathonläufer aus den USA. Doch genau das ist eine dieser Geschichten, deretwegen Gernot Weigl, der Organisator der München-Marathons, vor Jahren schon davon träumte, Shorter im Jahr 2022 zu seiner Veranstaltung einzuladen, als Ehrengast. Und es hat geklappt. Shorter, der hier als Sohn eines in München stationierten US-Armeearztes zur Welt kam, an Halloween 1947, dessen Familie ein Jahr später in die Heimat zurückkehrte, der dann 1972 als 24-Jähriger eine starke "innere Verbundenheit" mit seiner Geburtsstadt spürte, wie er später mal erzählte, schlendert also nun in Begleitung von Fotografen über die Laufbahn des Olympiastadions. Jener Sportstätte, die vor wenigen Wochen noch gewackelt und gebebt hat während der Leichtathletik-EM, dass beinahe das Zeltdach weggeflogen wäre. Fast so, als wäre Olympia noch einmal zurückgekehrt.

18 500 Teilnehmer und einige Topathleten - der München-Marathon hat große Ziele

Dieser Frank Shorter, bald 75, hat zuvor oben bei einer Pressekonferenz noch einmal seine Geschichte erzählt. Stundenlang hätte man ihm dabei zuhören können. Ehe er drankam, hatte Geschäftsführer Weigl die Zahlen präsentiert: Gut 18 500 Läuferinnen und Läufer werden am Sonntag starten, etwa 5000 beim Marathon selbst, dazu Staffeln, Trachten-, Kinderlauf. Start und Ziel ist dieses Stadion. Und man hatte Agnes Keino aus Kenia und Aberu Zennebe aus Äthiopien auf dem Podium sitzen, in Vertretung für die zu spät angereiste Äthiopierin Mare Dibaba, die Marathon-Weltmeisterin von 2015 - drei afrikanische Läuferinnen, von denen man sich am Sonntag eine deutliche Verbesserung des bisherigen Streckenrekords in München erwartet. Außerdem den Äthiopier Tsegaye Mekonnen, der den inoffiziellen Junioren-Weltrekord hält und der den Streckenrekord bei den Männern verbessern soll. Sie alle symbolisieren das neue Konzept des München-Marathons, der nämlich erstmals seit 20 Jahren wieder Topläufer organisiert hat. Ein paar leise, knappe Antworten gaben die drei, kaum mehr als Ja und Nein.

Bei Shorter klang das völlig anders. Er ist Medienprofi, und er hat viel zu erzählen. Seine sportlichen Erfolge hat er prima vermarktet bekommen, durfte Ende der Siebziger als einer der ersten Amateursportler in den USA mit dem eigenen Namen werben und für Preisgeld laufen. Er gilt als Initiator für die Laufbewegung in den USA, war TV-Kommentator, Rechtsanwalt, saß der Nationalen Anti-Doping-Agentur vor, ein spannender, bis heute irgendwie lässig wirkender Typ. Vor einigen Jahren hat er eine Autobiografie herausgebracht. Es geht darin auch um düstere Themen wie seinen gewalttätigen Vater, dem zu entfliehen ihm der Laufsport geholfen habe. Es war seine Art, anders zu werden als der Mann, der ihn und seine Geschwister verdrosch. Aber um solche Dinge geht es am Freitag natürlich nicht in München, wohin er erst zum zweiten Mal seit dem Olympiasieg zurückgekehrt ist. Es geht ums Laufen, seine Passion. Und um 1972.

Medienprofi, spannender Erzähler, lässiger Typ: Frank Shorter erzählt am Freitag aus seinem Leben. (Foto: Norbert Wilhelmi / oh)

Es war damals erst der sechste Marathon in der Laufbahn von Frank Shorter, er gewann ihn in 2:12:19,8 Stunden. Über 10 000 Meter war er eine Woche zuvor Fünfter geworden, und beinahe hätte sein Marathonrennen geendet, ehe es richtig begann - ein Begleitfahrzeug streifte ihn nämlich kurz nach Verlassen des Stadions durch das Marathontor. Doch Shorter trug nur ein paar Schrammen davon. Nach 15 Kilometern startete er den ersten Angriff, war nicht mehr einzuholen. Profitierte, wie er am Freitag erzählte, auch vom kurvigen Streckenverlauf, dem er verdankte, dass die Verfolger ihn nicht sahen und keine Ahnung hatten, wie weit er mit seiner Tempoverschärfung enteilt war.

Wenn überhaupt, sei er übrigens keine laufende, sondern eine lebende Legende, fügte er ein. Auf das "lebend" lege er Wert.

Die andere Geschichte mit Shorter und München, an die sich viele erinnern werden, geschah bei seiner Rückkehr von der Strecke ins Olympiastadion. Denn noch bevor er den Tunnel ins Stadioninnere erreicht hatte, hörte er drinnen bereits stürmischen Applaus, und als er dann ins Stadion einlief, wurde es erst still, dann pfiffen die Menschen. Er wusste nicht, ob er etwas falsch gemacht, die Leute mit irgendetwas gegen sich aufgebracht hatte. Erst später bekam er erzählt, dass sich ein 16-jähriger Schüler vor dem Stadion auf die Strecke geschlichen hatte, in Laufkleidung und mit der selbstgebastelten Startnummer 72. Der Jugendliche hatte zunächst den für Shorter gedachten Applaus eingeheimst. Erst als ihn vor dem Ziel dann die Sicherheitskräfte aufhielten, erkannte das Publikum seinen Irrtum und begann zu pfeifen.

Auf seinem Balkon wird Shorter Zeuge des Terroranschlags - und beschließt die Ereignisse danach völlig auszublenden

Diese kuriose Geschichte fand erstaunlicherweise kaum Platz in der Pressekonferenz. Weder damals noch heute habe ihn das groß geärgert, sagte Shorter, er sei ja nicht für den Applaus gelaufen, sondern um als Erster ins Ziel zu kommen. Kurz kam der Schlenker zu Montreal, wo er vier Jahre später olympisches Silber holte. Fast exakt genauso kurz vor seiner Rückkehr ins Stadion sei auch dort der Applaus im Inneren aufgebrandet. Er verschweigt, dass ihn dieses Erlebnis später viel mehr beschäftigt hat als der Schüler 1972 - weil nämlich Waldemar Cierpinski, der Sieger aus der DDR, später in Verbindung gebracht wurde mit dem ostdeutschen Staatsdoping.

Und dann gab es noch ein Kapitel zu erzählen, denn Shorter war vor seinem Triumph 1972 auch Zeuge geworden jenes Anschlags, den ein palästinensisches Terrorkommando am Morgen des 5. September auf die israelische Mannschaft ausübte. Lange schließt er auf dem Podium die Augen, ehe er erzählt, wieso er damals auf dem Balkon seines Zimmers im Olympischen Dorf übernachtet hatte, von wo er dann die nächtlichen Schüsse gehört habe und später am Morgen auch das israelische Quartier beobachten konnte. Wie sie dann alle versucht hätten, ihren Schock zu verarbeiten, wie sie vor schwer bewaffneten Wachen über eine Absperrung kletterten, einfach um laufen zu gehen. "Es war das, was wir kontrollieren konnten" - nicht ahnend, dass der größere Teil des Dramas auf einem Flugplatz bei Fürstenfeldbruck noch im Gange war. Und wie er am Tag vor dem Marathon beschlossen habe, einfach nicht mehr an die schrecklichen Ereignisse zu denken, bei denen letztlich elf israelische Sportler, ein Polizist und mehrere Geiselnehmer getötet wurden. "Weil die Terroristen sonst gewonnen hätten."

Der München-Marathon will nach der Pandemie wieder größer und sportlich ambitionierter werden, er hat das am Freitag aber mit einem bewegenden Blick in die Vergangenheit des Sports eingeläutet.

Frank Shorter erschien in langen Laufklamotten zum Termin. Später, im Stadion, trägt er darüber einen bayerischen Trachtenjanker, den Gernot Weigl ihm zuvor als Geschenk überreicht hatte. Shorter kann damit nun auch außen immer ein bisschen München bei sich tragen. Innerlich tut er das schon sehr lange.

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