Corona in England:"Nehmt die Hände weg, ihr Idioten!"

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Jürgen Klopp am 11. März an der Anfield Road. (Foto: Getty Images)

Die Champions-League-Partie zwischen Liverpool und Atlético im März könnte eine Art Virenzentrifuge gewesen sein. Eine Untersuchung bringt 41 Todesfälle mit dem Spiel in Verbindung.

Von Alexander Mühlauer, London

Boris Johnson war nicht allein. Zusammen mit seiner Verlobten und gut 80 000 Fans schaute sich der britische Premierminister am 7. März das Rugby-Spiel England gegen Wales an. Johnson war sichtlich gut gelaunt und schüttelte allerlei Hände. So unbekümmert wie im Stadion von Twickenham ging es an diesem Abend längst nicht überall zu. Während vor den Toren Londons ausgelassen gefeiert wurde, hatten die Verantwortlichen in Dublin das für den selben Tag geplante Rugby-Spiel zwischen Irland und Italien abgesagt. Die Gefahr, dass sich das Coronavirus im Stadion massiv verbreiten könnte, war den Iren einfach zu groß.

In Großbritannien sah man das lockerer. Zwei Tage nach dem Match in Twickenham erklärte der wissenschaftliche Chefberater der Regierung, Patrick Vallance, dass Großveranstaltungen "eigentlich keinen Unterschied" für die Verbreitung des Virus machten. Es gebe nur eine bestimmte Anzahl von Menschen, die man anstecken könne: "Eine Person in einem Stadion mit 70 000 Sitzplätzen wird nicht das ganze Stadion infizieren", sagte er. Kein Wunder also, dass Johnson zu dieser Zeit davon absah, große Sportveranstaltungen wie jene in Twickenham zu untersagen.

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Und so reisten ein paar Tage später gut 3000 Fans von Atlético Madrid nach England, um beim Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Liverpool dabei zu sein. Es war das letzte große Fußballspiel vor dem Corona-Lockdown im Königreich. Während am selben Abend Borussia Dortmund beim Parallelspiel in Paris bereits vor leeren Tribünen antreten musste, tummelten sich an jenem 11. März auf den Rängen an der Anfield Road 52 000 Menschen. Wie viele von ihnen mit Sars-CoV-2 infiziert waren, kann niemand wissen. Nun gibt es eine Untersuchung, wonach 41 Todesfälle mit der Partie in Verbindung stehen sollen. Die Datenanalysefirma Edge Health hat Zahlen des britischen Gesundheitsdienstes NHS ausgewertet. Demnach starben 25 bis 35 Tage nach dem Champions-League-Spiel in den Krankenhäusern in und um Liverpool 41 Menschen mehr als in anderen vergleichbaren Kliniken in diesem Zeitraum.

Inwieweit diese Todesfälle etwas mit dem Spiel zu tun haben, lässt sich nicht sagen. Aber die Schätzung, über die zuerst die Sunday Times berichtete, nährt den Verdacht, dass die Partie eine Art Virenzentrifuge gewesen sein könnte - wie schon das Champions-League-Spiel Atalanta Bergamo gegen Valencia am 19. Februar, das in Italien inzwischen als "Spiel null" gilt. Zwei Wochen danach explodierten die Infizierten-Zahlen in Bergamo und Umgebung.

In Liverpool lässt sich das nicht so genau nachvollziehen, weil dort die Menschen mit Corona-Symptomen so gut wie nicht getestet wurden. Die Regierung sah dafür auch keinen Anlass. Zwei Tage nach dem Spiel in Liverpool erklärte Vallance, der wissenschaftliche Chefberater der Regierung, im britischen Rundfunk, dass der Aufbau eines gewissen Maßes an Herdenimmunität Teil der Regierungsstrategie sei. Nach diesem Konzept sollen sich möglichst viele junge und gesunde Menschen mit dem Virus infizieren, um so eine Art Immunitätsschutz für die Alten und Vorerkrankten zu bilden.

Erst als die Zahl der Covid-19-Fälle in Großbritannien immer dramatischer anstieg, untersagte die Regierung Großveranstaltungen - am 16. März, fünf Tage nach dem Spiel in Liverpool.

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Eine Woche später folgte der landesweite Lockdown. Mittlerweile gilt die späte Reaktion der Briten als einer der Hauptgründe für die hohen Todeszahlen im Königreich. In keinem Land Europas sind bisher mehr Menschen an Covid-19 gestorben. Am Dienstag lag die Zahl bei etwa 37 000.

Welchen Anteil das Spiel von Liverpool daran hatte, ist also schwer zu sagen. Fest steht nur, dass die Politik ziemlich spät aufgewacht ist. Erst Ende April forderte der Bürgermeister der Region Liverpool, Steve Rotheram, eine offizielle Untersuchung. "Wenn sich Menschen als direkte Folge einer Sportveranstaltung mit dem Coronavirus infiziert haben, ist das ein Skandal", sagte er der BBC. Es müsse untersucht werden, ob einige dieser Infektionen auf Atlético-Fans zurückzuführen seien, denn Madrid sei schon damals schwer vom Virus getroffen gewesen. Angela McLean, eine wissenschaftliche Beraterin der Regierung, sagte vor einem Monat, dass es weitere Untersuchungen brauche, um zu sehen, in welcher Beziehung das Virus in Liverpool zu jenem in Spanien gestanden habe. Dass die Zulassung der Partie zur Verbreitung des Virus beigetragen haben könnte, nannte sie "eine interessante Hypothese".

Vor dem Spiel blaffte Klopp Fans an

Der Bürgermeister von Madrid, José Luis Martínez-Almeida, war da schon deutlicher. Es sei "ein Fehler" gewesen, das Spiel stattfinden zu lassen, sagte er. Im Nachhinein war dann auch Jürgen Klopp nicht besonders froh: Sein FC Liverpool verlor das Spiel gegen Atlético nach Verlängerung 2:3, der Trainer der Reds war nach dem Match ziemlich frustriert. "Die Art, wie die spielen - ich kapiere es nicht, aber so ist das Leben", sagte Klopp. Atlético sei mit Weltklassespielern gespickt, habe sich aber entschieden zu spielen wie jemand, der um den Klassenerhalt kämpfe. Natürlich akzeptiere er das Ergebnis, sagte Klopp, aber es fühle sich nicht richtig an. Ihm sei klar, dass er "ein sehr, sehr schlechter Verlierer" sei.

Bereits vor dem Spiel hatte Klopp seinen Emotionen freien Lauf gelassen. Als ihm beim Einlaufen einige Fans die Hände entgegenstreckten, um sich mit ihm abzuklatschen, schimpfte Klopp: "Nehmt die Hände weg, ihr verdammten Idioten!" Ihm war anscheinend bewusst, dass die Ansteckungsgefahr an diesem Abend im März groß war.

© SZ vom 27.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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