Leichtathletik-WM in Berlin:Der schnellste Clown der Welt

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Historisches Rennen in Berlin: In der Weltrekordzeit von 9,58 Sekunden düpiert Usain Bolt im 100-Meter-Finale den starken Amerikaner Tyson Gay und wird Weltmeister.

Thomas Hahn, Berlin

Der Start verzögerte sich, weil die Zuschauer im Berliner Olympiastadion die Siebenkämpferin Jennifer Oeser und die Kugelstoßerin Nadine Kleinert für ihre Silber-Gewinne feiern wollten. Usain Bolt musste warten, weil die erfolgreichen Heimsportler ihre Ovationen empfangen sollten, und Pfiffe gellten durchs weite Rund, als klar war, dass die Deutschen ihr Fest für die Show des Jamaikaners unterbrechen mussten. Aber natürlich blieb Usain Bolt ganz ruhig, zeigte seine Pantomimen, hielt kurz inne. Und dann rannte er. So schnell, dass ihm keiner folgen konnte. So schnell, wie noch nie ein Mensch vor ihm gelaufen ist. 9,58 Sekunden auf 100 Meter ist seit Sonntagabend das neue Maß für menschliche Geschwindigkeit. Welche Kraft auch immer hinter diesem Rennen steckte, es war das schnellste in der Geschichte der Leichtathletik, zumal auch Usain Bolts beste Verfolger schnell waren. Sehr schnell sogar. Der abgeschlagene Tyson Gay aus den USA rannte als Zweiter 9,71 Sekunden, und der drittplatzierte Jamaikaner Asafa Powell 9,84.

In der Weltrekordzeit von 9,58 Sekunden düpiert Usain Bolt im 100-Meter-Finale von Berlin die Konkurrenz. (Foto: Foto: dpa)

So also sieht die Auflösung dieses Duells aus, von dem vor der WM alle sprachen, und von dem in den aufgeregten Tagen vor der Eröffnungsfeier offenbar niemand wissen wollte, dass es möglicherweise gar kein Duell mehr war. Ein klarer Sieg Usain Bolts, ein chancenloser Tyson Gay. Es funktioniert eben nicht, Zahlen nebeneinander zu stellen und daraus allein die Konstellation für ein Rennen zu formen.

Tyson Gay aus Lexington, der Weltjahresbeste über 100 und 200 Meter mit 9,77 Sekunden und 19,58 Sekunden gegen Usain Bolt aus Trelawny, der bei seinen Saisonbestzeiten nur unwesentlich langsamer war (9,79, 19,59), der amerikanische Dreifach-Weltmeister gegen den jamaikanischen Dreifach-Olympiasieger - das wirkte irgendwie logisch und war es in den vergangenen Wochen doch nicht mehr. Denn im gleichen Maße, wie Bolt sich immer besser in die Saison einlebte, selbst bei widrigen Bedingungen Spitzenzeiten erreichte und bei Pressekonferenzen seine Gelassenheit zur Schau stellte - im gleichen Maße schien Gay an seinem Körper zu verzweifeln.

Fehlstart im Halbfinale

Irgendwann im Juli muss ihm der Schmerz in die Leiste gefahren sein. Anfang des Monats lief Gay noch seine 9,77 in Rom, drei Wochen später in London quälte er sich über 200 Meter in 20,00 Sekunden und klagte erstmals über Probleme. Aber die Ereignis-Vermarktung nimmt keine Rücksicht auf die kleinen Hemmnisse des Sportleralltags, welche einen sehr guten Sprinter zu einem guten Sprinter schrumpfen lassen können. Gay versuchte, seine eigene Unsicherheit so gut wie möglich zu überspielen. Bei Wettkämpfen war er nicht mehr zu sehen, er trainierte, ließ sich in München beim Edel-Doktor Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt behandeln, horchte in sich hinein. Gleichzeitig spielte Tyson Gay tapfer mit bei der Duell-Kampagne, die ihn als Herausforderer vorsah, sogar als möglichen Weltrekordler.

Er gab Interviews, in denen er sagte, dass alles in Ordnung sei und in Berlin das beste Sprintturnier der Geschichte zu erwarten sei. Er sprach von Fabelzeiten jenseits der 9,69 Sekunden. Noch in Berlin sagte Gay, "Neun-sechs-irgendwas" könnten notwendig sein, um ans WM-Gold zu kommen. Ob er wirklich noch daran glaubte, sie selbst zu erreichen? Spätestens nach seinem Viertelfinallauf bröckelte die Fassade. Da war eine Schwere in seinem Schritt, die ein echter Bolt-Gegner sich nicht erlauben kann, und als er im Ziel war sagte er: "Ich fühle mich gut. Nur meine Leiste tut ziemlich weh."

Bolt hingegen schwebte durch seine Vorläufe, er bewältigte seine Runden im Spazierschritt und mit einer demonstrativen Gelassenheit, als seien diese Rennen gar keine Rennen für ihn, sondern nur noch der Anlass für seine Clownerien. Sein Viertelfinale beendete er auf einer Höhe mit Daniel Bailey aus Antigua und Barbuda, einem weiteren Schüler seines Trainers Glen Mills. Sie schauten sich an, sie lachten, und Bailey schien es als große Ehre zu empfinden, dass der große Bolt ihn in sein Spiel mit einbezog.

Und auch im Halbfinale bot Bolt wieder sein Repertoire an Gesten, mit denen er anzeigt, dass er nicht braucht, was andere brauchen vor dem Start: Konzentration, andächtige Besinnung auf die Schritte, die im Sprint präzise sitzen müssen, um nicht wertvolle Augenblicke zu verlieren. Er leistete sich sogar einen Fehlstart, der - wenn man ihm glauben durfte - der erste seiner Karriere war. Hatte er den Fehlstart absichtlich begangen, um mehr Zeit auf seiner Bühne zu haben? Jedenfalls wird der Brite Tyrone Edgar sich mit Bitternis an diesen lauen Sonntagabend in Berlin zurückerinnern. Denn ihm unterlief der nächste Fehlstart, damit war er disqualifiziert. Bolt zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: blöd gelaufen. Und dann brachte er das schnellste Halbfinale der WM-Geschichte ins Ziel. 9,89 Sekunden, mit gebremsten Schritten.

Es war noch etwas Zeit bis zum Finale, und doch sah es so aus, als wäre das Duell längst ausgefallen. Tyson Gay gewann sein Halbfinale in 9,93 Sekunden. Ohne Theater allerdings, ohne demonstrative Gelassenheit, und er atmete schwer. Bolt sagt, dass er nicht unschlagbar sei. An diesem Abend aber stimmte das nicht, was auch immer hinter seiner Kraft steckte. Gay würde sich auf Silber konzentrieren müssen, das ihm vor allem Asafa Powell streitig machen konnte, der frühere Weltrekordler, der seine ganz persönliche Geschichte ins Olympiastadion mitgebracht hatte.

Asafa Powell war wütend auf die Funktionäre seines Verbandes, weil sie ihn und fünf weitere Spitzenkräfte aus seiner Trainingsgruppe wegen Trainingslagerschwänzens zwischenzeitlich aus dem WM-Team verbannt hatte. Und wie Powells Trainer Stephen Francis es sich erhofft hatte, schien ihn diese Wut zu inspirieren nach einer durchwachsenen Saison. So geschmeidig schnellte er aus den Blocks, so leicht kamen ihm seine Schritte vor, dass er sie in der ersten Runde zu früh zügelte und nur mit Glück die nächste Runde erreichte. Danach gab sich Asafa Powell keine Blöße mehr und gewann schließlich eine Bronzemedaille, die ihm viel bedeuten musste.

Und Tyson Gay? Sollte er hadern mit Platz zwei? Das durfte er nicht. Er war der beste Sprinter hinter dem schnellsten Clown der Welt.

© SZ vom 17. August 2009/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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