Deutsche Leichtathletik:Die Schmiede stottert

Lesezeit: 4 min

Eine der wenigen Kugelstoßerinnen, die zurzeit eine stabile Form erreichen: Sara Gambetta bei den Halleschen Werfertagen. (Foto: Fotostand/Ballasch/Imago)

Die Werfer und Stoßer waren über viele Jahre Medaillengaranten der deutschen Leichtathletik. Und jetzt, im WM-Sommer 2023? Stehen sie auch grundsätzlich für die Schwäche des Spitzensports im Land.

Von Johannes Knuth, Halle

Man sieht ihn schon, bevor sich die Speerwerferin Christin Hussong zum Anlauf bereit macht; wenn sie dann die Spikes auf den Belag setzt, nicht so recht an Spannkraft aufbaut, und natürlich sieht man ihn, als sie sich danach ins Gras plumpsen lässt: diesen Schleier der Verzweiflung über dem Gesicht, der sagt: Ich schaffe es nicht.

Ein Wochenende im Mai, am Sportzentrum Brandberge in Halle/Saale: Der Putz an der Turnhalle trägt Patina, drum herum streben Kugelstoßringe, Hammerwurfnetze und Diskuskorridore in alle Himmelsrichtungen. Daneben stehen Bierbänke, auf denen sie alle auf ihren Einsatz warten, rund 500 Teilnehmer an zwei Tagen, von der Nachwuchshoffnung bis zum Olympiasieger. Sie alle brauchen eine Kraftzelle, um sich für die neue Saison in Schwung zu bringen, und weil es der Leichtathletik seit jeher an einer stringenten Wettkampfserie fehlt, kommen sie eben auch hier zusammen, bei Bier, Bratwurst, Würfen und Stößen in allen Geschmacksrichtungen.

SZ PlusTrainingswissenschaft
:"Frauen sind nicht einfach nur kleine Männer"

Fabienne Königstein ist eine der schnellsten deutschen Marathonläuferinnen. Im Interview spricht sie über Wissenslücken beim Thema "Sport und Schwangerschaft", zyklusbasiertes Training und ein manchmal falsches Verständnis von Gleichstellung.

Interview von Johannes Knuth

Welch probates Setting für eine kleine Feldstudie darüber (neben den örtlichen Wurstspezialitäten), wie es gerade ums Werfen und Stoßen im Deutschen Leichtathletik-Verband steht. Aus den Schmieden der Werfer und Stoßer rollten die Medaillen ja mal verlässlich vom Band, auch wenn das nicht selten auch Erzählungen über das Erbe des vergifteten DDR-Sports umfasste. Die Produktion, das ist unumstritten, stockt jedenfalls seit Jahren, neben dem Podium und darauf, wie überhaupt im DLV. Bei der WM 2015 etwa, da gab es noch zwei Goldmedaillen (Christina Schwanitz/Kugel, Katharina Molitor/Speer), Silber (David Storl/Kugel) und Bronze (Nadine Müller/Diskus). Sieben Jahre später in Eugene war Platz vier von Speerwerfer Julian Weber schon der beste Ertrag. Und jetzt, bei der WM im August in Budapest?

Wenn die Besten schwächeln, reißt dahinter oft eine große Lücke auf

An Christin Hussong kann man ganz gut studieren, was passiert, wenn eine einstige WM-Vierte und Europameisterin mit 29 Jahren plötzlich eine neue Erfahrung macht: dass es nicht mehr weitergeht. "Ich bin seit 2010 bei jedem Höhepunkt dabei und hatte noch nie annähernd eine Verletzung", sagte Hussong in Halle. Sie erinnerte daran, wie im Vorjahr alles zusammenfloss, ein Sturz, Corona, WM- und EM-Stornierung. "Ich bin einfach ein extremer Kopfmensch", sagte sie; sie kannte das so nicht: die ersten Schritte im Training, das Comeback in Halle, rasende Gedanken und Übelkeit davor. Und dann: 53,60 Meter, knapp 15 Meter hinter der Bestweite? Sie werfe in jedem Training weiter, sagte sie, lächelte bitter, fügte an, dass ihr Körper vielleicht so fit sei wie noch nie. Nur was nutzt das, wenn der Kopf nicht mitmacht?

Das ist seit einer Weile das große Problem im DLV: Wenn die Hochleister schwächeln, reißen dahinter immer größere Lücken auf. In Halle hakten viele Junge wieder viele Normen für Nachwuchsmeisterschaften ab, aber diese Begabungen verlässlich in eine Laufbahn bei den Erwachsenen gleiten zu lassen, daran scheitern sie (nicht nur in der Leichtathletik) seit Jahren. In der Weltspitze setzen andere das Tempo, in Halle wieder: Weltjahresbestleistung durch die Norwegerin Sigrid Borge mit dem Speer (66,50 Meter), Weltjahresbestleistung der Amerikanerin Chase Ealey mit der Kugel (20,06).

Sara Gambetta, die einzige deutsche Starterin übrigens bei der Diamond League am Sonntag in Rabat, schaffte 18,78 Meter. Der Italiener Zane Weir gewann bei den Männern mit 21,74 Metern, hier ist das deutsche Vakuum seit David Storls leisem Rückzug noch größer. Im Hammerwurf und im Diskuswurf der Männer tasten sich ältere und jüngere Kräfte zumindest wieder Richtung Weltspitze vor, zugleich spüren selbst die zuletzt so starken Speerwerfer die Strapazen der vergangenen Jahre: Thomas Röhler, der Olympiasieger von 2016, war in Halle mit 75,85 Metern nur zweitbester Deutscher, hinter dem 19-jährigen Max Dehning (77,20).

Auch ausländische Talente fördern? Das könnte durchaus die Deutschen weiterbringen

Wenn man René Sack fragt, der mittlerweile die komplette Diskus-Sparte im DLV als Bundestrainer betreut, spannt der erst mal den großen Bogen: von Landesmeisterschaften, bei denen nur noch ein, zwei Talente bei den Würfen auftauchen, übers Training, das viel Geduld bei der Technik erfordert, bis zu einer Gesellschaft, die Anerkennung lieber in digitalen Welten sucht statt auf dem Sportplatz bei Bierbänken und Bratwurst. Und es stimmt ja: Letztlich spiegelt sich der kleinere Niedergang auch nur im größeren. Andererseits: Kann man es Talenten verdenken, dass sie sich lieber verabschieden, wenn sie sich bis zur Perspektivkadernorm quälen - und dann erfahren, dass sich ihr Verband offenkundig verrechnet hat? Über 70 Nachwuchsathleten erhalten in diesem Jahr deshalb weniger Geld als gedacht.

Leichtathletik
:Neubeginn mit krachendem Fehlstart

Der Deutsche Leichtathletik-Verband gelobt nach dem schlechten WM-Abschneiden Besserung - und patzt nun bei einem wichtigen Reformvorhaben. Dutzenden Sportlern bricht für die neue Saison wohl eine wichtige finanzielle Fördersäule weg.

Von Johannes Knuth

Vieles ist eben auch selbstverschuldet. Beim Drehstoßen mit der Kugel waren sie nicht gerade Vorreiter, auch wenn manche wie die 24-jährige Yemisi Ogunleye in Halle aufzeigten, mit 18,53 Metern. René Sack würde es auch sehr begrüßen, wenn die Bundestrainer mit den vom Bund bereitgestellten Mitteln auch internationale Athleten betreuen dürften, wie in der Schweiz und den USA - wogegen sich der Bund stemmt. "Natürlich ziehen wir da in einer gewissen Form unsere eigene Konkurrenz ran", sagt Sack, "aber - das ist meine Erfahrung aus vielen Trainingslagern - du hast einen ganz anderen Zug in der Gruppe. Und als Trainer lernst du noch mal ganz andere Auffassungen und Trainingsinhalte. Hinter all dem steckt auch eine andere geistige Einstellung." Mehr Lust auf Leistung etwa - auch, wenn es mal nicht weitergeht im Sportlerleben.

Wenn man Sack richtig versteht, vermisst er bei manchen Athleten auch jene Ausdauer, mit der die deutschen Diskuswerferinnen seit Jahren in der Weltspitze mithalten: Kristin Pudenz, zuletzt Zweite bei Olympia und der EM, saß viele Jahre im Schatten der nationalen Konkurrenz, gab nicht auf - und rückte in Halle mit 66,34 Metern schon wieder sehr nahe an Weltmeisterin Bin Feng (66,70) aus China heran. "Vielleicht war das bei uns auch der Pluspunkt, dass wir uns immer alle pushen mussten über die Jahre", sagte Pudenz, anders als manche Einzelkämpfer in anderen Ressorts. Über allem, was Pudenz in Halle sagte und tat, lag jedenfalls kein Schleier des Schweren, eher diese stille Gewissheit, die davon kündete: Da kommt noch was.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusLeichtathletik
:Der olympische Patient

Gestresste Athleten, frustrierte Trainer, Funktionäre in Abwehrhaltung: Ein Streifzug von der Basis bis zur Verbandsspitze offenbart, wie viel in der deutschen Leichtathletik im Argen liegt. Das Beispiel erzählt einiges über den Spitzensport im Land.

Von Karoline Kipper und Johannes Knuth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: