Vor rund einem Monat, zwei Tage vor Heiligabend, verkündete der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) eine Botschaft, auf die interessierte Beobachter seit einer Weile gewartet hatten.
Man habe das vergangene Jahr - Platz eins im Medaillenspiegel bei den Europameisterschaften in München, kurz zuvor das schlechteste Abschneiden der Geschichte bei den Weltmeisterschaften in Eugene - "weitreichend" analysiert, hieß es. Mehr als "80 kompetente Insider" hätten in "zahlreichen Workshops" an "umfassenden Neuerungen" gearbeitet, Funktionäre und prominente Athleten, darunter Gina Lückenkemper, Richard Ringer, Thomas Röhler und Christoph Harting.
Das Destillat dieser Überlegungen: ein Konzept, mit dem man wieder "Anschluss an die Weltspitze" finden wolle, so DLV-Präsident Jürgen Kessing. Spätestens bei den Sommerspielen 2028 wolle man wieder in den Kreis der fünf besten Leichtathletik-Nationen rücken. (In Eugene war der DLV in der Punktewertung auf Rang 14 abgerutscht.) Ein noch zu findender Sportdirektor solle Cheftrainerin Annett Stein entlasten. Man werde die besten Athleten in der Spitze und im Nachwuchs noch "individueller und umfassender" fördern, in puncto Training, Gesundheit, Ausbildung und Studium. Und alle Beteiligten sollten sich künftig viel besser miteinander abstimmen, klar.
Klingt alles gut. Spannend nur, dass der DLV offenkundig schon wieder jene Maßstäbe reißt, die er sich und anderen auferlegt - nach einem Jahr, in dem diverse kompetente Insider dem Verband eine schlechte Organisation attestiert hatten, manche sogar ein Klima der Angst.
Knapp 80 Leichtathleten müssen kommendes Jahr auf einen Teil des Gehalts verzichten
Kurz vor Weihnachten, fast zeitgleich zur frohen DLV-Botschaft, erhielten rund 270 Leichtathleten eine E-Mail von der Deutschen Sporthilfe - jener Stiftung, die die besten Athleten des Landes auf diversen Wegen unterstützt. Der Inhalt war weniger salbungsvoll. Grob gebündelt stand darin, dass knapp 80 Leichtathleten für die kommende Saison auf einen Teil ihrer finanziellen Förderung verzichten müssen.
Der DLV unterstützt seine besten Athleten, wie fast jeder Sportverband, in verschiedenen Kadern. Die höchste Stufe ist der Olympiakader, darunter ist der Perspektivkader angesiedelt, beide für die Erwachsenen gedacht. Für ältere Nachwuchsathleten gab es bis zuletzt zwei Auffangbecken: einen Nachwuchskader für die U23-Klasse, einen für die U20. Den Kader für die U23-Klasse schaffte der DLV zuletzt ab: Man habe festgestellt, dass die meisten dieser Athleten ohnehin das Niveau des Perspektivkaders erfüllten, schreibt der Verband auf Anfrage. Wenn man diese Athleten dort eingliedere, könne man sie in die "Projektförderung" und den "Athletenservice" des DLV einbinden und wirksamer fördern.
Grundsätzlich eine gute Idee: In den letzten Jahren bis zur Erwachsenenklasse entscheidet sich oft, ob Athleten in eine Profikarriere hinübergleiten, mit der Doppelbelastung von Sport und Ausbildung. Es ist das Scharnier, an dem nicht nur der Leichtathletik viele Begabungen abhandenkommen - just die, die später die großen Weihen einholen sollten.
Ein kleiner Haken bei der Geschichte: Um die besagten U23-Athleten in den Perspektivkader hochzuziehen, musste der DLV die dafür nötigen Zugangsnormen absenken. Diese Normen schafften zuletzt auch einige der besten Athleten aus der noch jüngeren U20-Klasse. Ursprünglich wollte der Verband diese Athleten nach SZ-Informationen nicht auch noch in den Perspektivkader übernehmen, gab allerdings nach, nachdem ein Athlet mit Klage gedroht hatte. (Der DLV bestreitet das und schreibt, man habe "auf Basis der Bewertung des Trainerteams (...) und der Kommission Leistungssport" entschieden). So oder so schwoll der Kreis der zusätzlichen Athleten für den Perspektivkader zuletzt auf 77 an - diese Zahl steht in der E-Mail der Sporthilfe, die der SZ vorliegt.
Der Grund, weshalb der Perspektivkader so begehrt ist: Nahezu jeder Athlet darin erhielt bis zuletzt, unter anderem, 700 Euro pro Monat, mehr als in anderen Kadern. (Athleten, die in Fördergruppen des Bundes sind, erhalten etwas weniger). Für viele, die noch keine prallen Ausrüsterverträge haben, Studium oder Ausbildung finanzieren, ist das ein wichtiger Baustein. Nur: Das Geld fließt nicht vom DLV, sondern von der Sporthilfe. Und die kalkuliert von jeher - auch das steht in besagter E-Mail an die Athleten -, dass die Verbände die Zahl der Athleten pro Kader nicht wesentlich ändern, von Saison zu Saison.
In die "Abstimmungen zur neuen Kadersystematik" des DLV - 77 neue Athleten im Perspektivkader - sei man nun leider "nicht eingebunden" gewesen, schreibt die Sporthilfe. Diese Veränderung sei am 14. Dezember 2022 im Gutachterausschuss der Sporthilfe "erstmals" diskutiert worden, eineinhalb Monate nachdem der DLV seinen Athleten die frohe Kunde überbracht hatte, wer es in den Perspektivkader für die neue Saison geschafft hatte. (Der DLV schreibt schwammig, er habe die Sporthilfe im "November 2022" benachrichtigt.)
Viele Talente haben ihre Lebensplanung auf die neue Förderung abgestimmt
Die 700 Euro pro Monat, mit denen auch die 77 neuen Athleten seither kalkulierten - insgesamt knapp 650 000 Euro im Jahr - könne man jedenfalls nicht aufbringen, schrieb die Sporthilfe nun. Man habe den DLV deshalb gebeten, ihr all jene zu benennen, die weiter diese monatliche Zuwendung erhalten sollen. Dabei handelt es sich um rund 200 Athleten - so viele, wie die Sporthilfe auch in der letzten Saison förderte, das bestätigt sie auf Anfrage. Oder andersherum: Knapp 80 Athleten erhalten in dieser Saison keine monatliche Förderung. Die hatte die Sporthilfe ja nicht auf der Rechnung.
Als diese Athleten vor einigen Tagen erfuhren, dass sie zu diesem unerfreulichen Kreis zählen, war der Frust groß. Viele hatten in der Winterpause ihre Lebensplanung darauf abgestimmt, dass sie diese Summe erhalten, bei Verhandlungen mit Vereinen und Sponsoren etwa. Viele verstanden dem Vernehmen nach auch nicht, weshalb sie nun kein Geld erhielten, andere mit vergleichbaren oder schlechteren Leistungen schon. Auch habe der Verband dies bis heute kaum transparent dargelegt. Der DLV schreibt auf Nachfrage bloß, er habe alle Athleten vorgeschlagen, die 2022 für Eugene und München qualifiziert waren, dazu "die international erfolgreichsten Nachwuchsathleten".
Schon als die DLV-Cheftrainer Annett Stein und Dietmar Chounard sowie DLV-Vizepräsident Hartmut Grothkopp kurz nach Neujahr alle Athleten des neuen Perspektivkaders zusammengeschaltet hatten, waren viele irritiert. Dem Vernehmen nach griffen die DLV-Vertreter das strittige Thema nicht sonderlich auf. Dafür sei bemerkt worden, man müsse dankbar dafür sein, dass die Sporthilfe überhaupt Gelder ausschütte. Den Tonfall empfanden manche Teilnehmer als süffisant.
Der DLV weist auch das auf Anfrage zurück. Man habe die Athleten informiert und erläutert, "dass eine Stiftung die Vergabe der finanziellen Fördermittel eigenständig gestaltet". Ein billiges Argument: Den Perspektivkader nominiert in erster Linie der DLV; wenn dieser der Sporthilfe plötzlich Dutzende Athleten mehr vorschlägt, als diese finanziell unterstützen kann - was soll diese dann eigenständig entscheiden? Man versuche nun jedenfalls, "Lösungen" für alle anderen Athleten zu finden, gemeinsam mit der Sporthilfe. Worte des Bedauerns? Findet man in der Stellungnahme des DLV nirgends.
Die Sporthilfe schaffte zumindest das in ihrem Schreiben an die Athleten, und sie schickte dem DLV noch einen freundlichen Gruß hinterher: "Wir möchten zum Ausdruck bringen, dass wir diese Entwicklung bedauern und erwarten künftig wieder die bewährt gute Abstimmung im Vorfeld der Gesamtüberprüfung zwischen den beteiligten Partnern."
Noch deutlicher wurde zuletzt Mittelstreckenläufer Maximilian Thorwirth, ein Athletensprecher im DLV. Es sei ja schön, wenn der Verband große Konzepte anschiebe, "aber es wäre halt schon gut, wenn diese grundlegenden Sachen funktionieren würden", sagte Thorwirth in seinem Podcast. Seine Conclusio weicht massiv von der des DLV ab: "Es hat niemand daran gedacht, im Vorfeld mit der Sporthilfe zu reden, dass wir eine kleine Strukturreform machen." Für alle, die nun kein Geld erhalten, sagte Thorwirth, sei das eine "Sau-Scheißsituation".