Deutsches Team bei der Leichtathletik-WM:Mitschwimmen im rasenden Strom

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Knapp an den Medaillen vorbei: Tobias Potye jubelt über übersprungene 2,33 Meter. (Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Zwei fünfte Plätze als beste deutsche Resultate zur Halbzeit: Für Athleten wie Hochspringer Tobias Potye sind das hervorragende Nachrichten - für den Deutschen Leichtathletik-Verband verstecken sich darin wenig erbauliche Botschaften.

Von Johannes Knuth, Budapest

Tobias Potye sackte auf den Boden, lehnte sich an die Bande am Rande der Hochsprunganlage. Dann schaute er den Großmeistern auf der letzten Etappe dieses denkwürdigen Finals zu. Der Italiener Gianmarco Tamberi und der Amerikaner JuVaughn Harrison machten den Sieg nun unter sich aus, mit dem besseren Ende für den Olympiasieger aus Civitanova Marche. Viel hätte ja nicht gefehlt, und Potye, der 28-Jährige von der LG Stadtwerke München, hätte dieses Ende nicht nur aus der ersten Reihe im Stadion bezeugt. Aber die 2,36 Meter, die nur Tamberi und Harrison gemeistert hatten, hatte er nicht mehr geschafft. Und weil Potye die 2,33 auch erst im zweiten Versuch überflogen hatte statt wie Mutaz Essa Barshim im ersten, war aus dem möglichen dritten am Ende ein fünfter Platz geworden. Als Tamberi kurz darauf im Wassergraben planschte, federte Potye aus dem Stadion.

Als er später vor die Mikrofone der Reporter trat, schien aus seinem Gesicht noch Enttäuschung zu sprechen, doch im Kopf hatte er bereits den Entschluss gefasst, dass er ein Gewinner war. Und es stimmte ja: Platz fünf, einen Fehlversuch hinter Olympiasiegern und Weltmeistern, das war für einen wie Potye, der in Budapest sein erstes WM-Finale bestritt, eine großartige Nachricht. Und für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV)? Für den war es bis zum Mittwochmittag, der Halbzeit dieser Titelkämpfe, der beste Vermerk in der Bilanz neben Christopher Linkes zwei fünften Plätzen über 20 und 35 Kilometer Gehen. Darin spiegelte sich schon wieder eine weniger erbauliche Botschaft.

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Den deutschen Athleten konnte man in diesen ersten WM-Tagen wenig vorwerfen, sie waren so gut im Strom der rasenden Leistungen mitgeschwommen, wie es ihnen die Kräfte gestattet hatten. Hürdenläufer Joshua Abuaku wurde am Mittwochabend Achter im WM-Finale über 400 Meter. Der Frankfurter, der als erster Deutscher seit Harald Schmid vor 36 Jahren in einem Rennen um Gold stand, lief in 48,53 Sekunden ein. Gold sicherte sich in 46,89 Sekunden Olympiasieger Warholm, der damit nach 2017 und 2019 zum dritten Mal den WM-Titel gewann und seine Niederlage aus dem Vorjahr vergessen machte. Siebenkämpferin Sophie Weißenberg, die Mixed-Staffel, Diskuswerfer Henrik Janssen und die Kolleginnen Kristin Pudenz (Sechste/65,96 Meter) und Shanice Craft (Siebte/65,47) platzierten sich unter den besten acht. Das erwähnte auch Cheftrainerin Annett Stein am Mittwoch, erinnerte an die vielen Verletzungen im Team, bog dann zu der Erkenntnis ab, dass man mit dem Start "sehr, sehr zufrieden" sein könne, denn: Es gelinge, "beim Hauptwettkampf die Leistung abzurufen". (Bis auf so klitzekleine Ausnahmen wie 200-Meter-Läufer Joshua Hartmann, der nach seinem deutschen Rekord zuletzt (20,02 Sekunden) den Vorlauf in Budapest völlig verpatzte in 20,51 Sekunden.)

Andererseits sollte das ja selbstverständlich sein: beim Höhepunkt sich seinem Maximum zu nähern. So zeigten die Ausführungen der Cheftrainerin auch, wie weit die Ansprüche mittlerweile gesunken sind. Und wie groß die Kluft zu den besten fünf Nationen ist, in deren Kreis der DLV bis spätestens zu den Sommerspielen 2028 wieder einziehen will.

Diskuswerferin Kristin Pudenz wurde Sechste mit einer Weite von 65,96 Metern. (Foto: Ben Stansall/AFP)

Es war schon ulkig, dass bei dem gewaltigen Krankenstand derzeit einer den Vorspringer gibt, der seine Karriere wegen diverser Verletzungen schon einmal infrage gestellt hatte. Und wer über Jahre an der Mauer des Durchbruchs hämmert, wie Potye, der hat es nicht gerade leicht in der verzweigten deutschen Förderlandschaft. Es dauerte, bis der einstige U-20-Europameister sich einen Platz in der Sportfördergruppe der Bundeswehr sicherte, der ihm erlaubt, sein Informatikstudium zu pausieren und herauszufinden, wo seine maximale Reiseflughöhe liegt. Die Spiele in Paris habe er sich mindestens noch vorgenommen, sagte Potye zuletzt. 2021 hatte er sich bei der Einkleidung für Olympia schon eingedeckt (den Regenponcho, "den hätte ich gerne gehabt!"), die Quali dann doch noch verpasst.

Die große Wende kam erst 2022. Da überquerte er bei den nationalen Meisterschaften erstmals die 2,30 Meter. Nachdem er bei den Weltmeisterschaften in Eugene in der Qualifikation ohne Körperspannung gescheitert war, gewann er kurz darauf in München EM-Silber, seine erste große Medaille bei den Erwachsenen. Er habe vor allem gelernt, seine Kräfte noch besser zu dosieren, den Wettkampf im Kopf nicht zu früh zu beginnen, erzählte Potye vor der WM. So trug es ihn erst über 2,34 Meter bei der Diamond League in Chorzów, in Budapest nun über 2,33 Meter mit einem Sprung, der vielleicht auch für 2,36 Meter gut gewesen wäre. Aber als diese Höhe kurz darauf gefragt war, gestand Potye später, habe er seine Gedanken zu sehr an die mögliche Medaille geheftet statt "an die simple Aufgabe, über die Latte zu springen".

Für Potye war es trotzdem ein Gewinn: zu sehen, dass er mit der Weltspitze um die Hauptpreise "mitringen" kann. Aber was erzählt es über die jahrelange Aufbau- und Nachführarbeit eines Verbands, wenn der herausragende Athlet zur Halbzeit ein Hochspringer ist, der vor einem Jahr sagte, dass sein Körper für Hochleistungssport kaum gebaut sei?

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Noch so ein Trend in Budapest: Selbst wenn die Leistung stimmt, sind die Ausreißer nach oben, auf die der DLV insgeheim spekuliert hatte, bislang rar. Kristin Pudenz hätte mit ihren 65,96 Metern bei den Weltmeisterschaften 2011, 2013 und 2015 Bronze gewonnen, aber auch Diskuswettbewerbe finden noch immer in der Gegenwart statt, und diesmal, stellte Pudenz fest, habe ihr da die Lockerheit gefehlt. Es müssen ja nicht gleich vier Meter über der persönlichen Bestweite sein, wie bei der neuen Weltmeisterin Laulauga Tausaga aus den USA (69,49 Meter) aber die 68,20 Meter der drittplatzierten Bin Feng hätte sich Pudenz schon zugetraut.

Noch hat der DLV seine Besten in den Startlöchern: Speerwerfer Julian Weber, die Zehnkämpfer um Niklas Kaul und Leo Neugebauer. Letzterer war bis Mittwoch aber noch auf andere Weise damit beschäftigt, im Wettkampf am Freitag nicht zum Statisten zu werden: Die Lufthansa hatte ihm zwei Tage nach seinem Flug noch nicht den Koffer mit seinen zehn Paar Spikes nachgeliefert.

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