Auftakt der Leichtathletik-WM:Geht doch

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Auftakt in Budapest Christopher Linke hält sein Tempo im 20-Kilometer-Finale der Geher hoch und verpasst dabei knapp eine Medaille. (Foto: Ashley Landis/AP)

Geher Christopher Linke präsentiert sich zum WM-Auftakt als würdiger Teamkapitän der deutschen Leichtathleten: als Fünfter mit Landesrekord über 20 Kilometer Gehen, als Mutmacher für die Kollegen - und kritischer Begleiter seines Weltverbandes.

Von Johannes Knuth, Budapest

Nach zehn Kilometern, zur Halbzeit, bekam der Geher Christopher Linke ein wenig Angst.

39 Minuten waren da verstrichen, zehn Kilometer hatten sie absolviert in diesem 20-Kilometer-Finale bei den Weltmeisterschaften in Budapest. Wobei, so genau wusste Linke das nicht, denn die Kilometeranzeigen an der Strecke fehlten. Er fragte einen Kollegen, ob wirklich schon Halbzeit war.

Und weil die Kilometeranzeigen auf den Pulsuhren tatsächlich keinen Widerspruch einlegten, traf Linke einen Entschluss, den man eher von einem Rookie als von einem 34 Jahre alten Veteran erwartet hätte. Er hielt das Tempo, so dass er später "auch voll hätte wegplatzen können", sagte Linke später. Er wollte sich jedenfalls nicht im selben Irrtum verstricken wie vor einem Jahr bei den Weltmeisterschaften in Eugene, als er über 20 Kilometer ausgestiegen war, um Kraft zu sparen für die 35 Kilometer. Kurz darauf war er Corona-positiv.

Diesmal platzten jedenfalls weder Linke noch seine Form. Er erreichte gar als Fünfter das Ziel, nach 1:18:12 Stunden, 30 Sekunden schneller als jene nationale Bestmarke, die er sich bis zuletzt mit Andreas Erm geteilt hatte. Der neue Weltmeister Alvaro Martin (1:17:32) war nicht weit entfernt; besser war Linke auf interkontinentaler Bühne auch nur 2019 gewesen, als WM-Vierter über 20 Kilometer. Auch wenn in ihm der Schmerz köchelte, dass eine solch rasende Zeit mit keiner Medaille belohnt wurde, setzte die Vorstellung zumindest einen ganz anderen Ton im Vergleich zur durchwachsenen deutschen WM vor einem Jahr. Und auch sonst ging Linke in Budapest furchtlos voran, als Kritiker seines Weltverbands etwa, der im Bestreben, seine Athleten bestmöglich ins Licht zu rücken, gerne mal das Gegenteil herbeiführt.

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Achter, Fünfter, Vierter, Fünfter: Geher Christopher Linke ist schon lange Weltspitze, verpasste die Hauptpreise aber immer knapp. In München belohnt sich der 33-Jährige mit Silber über die 35 Kilometer - von denen er einst gar nicht so viel hielt.

Von Johannes Knuth

Zwei Tage zuvor saß Sebastian Coe, der 66 Jahre alte Lord und Präsident des Weltverbandes, auf einem Podium im Kongresszentrum von Budapest. Er zog das Wohlwollen der Reporter erst mal auf seine Seite, scherzte über die grellgrüne Krawatte eines Fragestellers ("Da werde ich ja farbenblind"). Dann sprach er mit sanfter Stimme darüber, wie er seinen Sport, an dessen Spitze er gerade für vier weitere Jahre bestätigt worden war, einigermaßen radikal umgestalten wolle.

Coe sprach von einem mehrtägigen Meeting, das 2026 erstmals stattfinden soll, einer Art Mini-WM für Jahre, in denen keine Weltmeisterschaften oder Sommerspiele stattfinden. Zugleich müsse man das wuchtige Programm bei Titelkämpfen endlich verschlanken. Ausgerechnet Coe, der einst bei den Konservativen in Großbritannien Karriere machte, will die tiefkonservative Leichtathletik wachrütteln. Alles, sagte er nach seiner Wiederwahl, stehe nun zur Debatte.

In den neuen Plänen des Verbands sieht Linke "ein Experiment auf Kosten der Athleten"

Wie so etwas aussehen kann, zeigen nun wieder die Geher, die am Samstag die WM eröffneten. Die Disziplin ist reich an Tradition - die 50 Kilometer etwa waren bis auf eine Ausnahme seit 1932 immer im olympischen Programm -, aber der Sport war lange nur in wenigen Ländern ein Bringer, vor allem im dopingverseuchten russischen Sport. Bei Weltmeisterschaften ist die Langstrecke mittlerweile auf 35 Kilometer zusammengeschnurrt, bei Olympia im kommenden Jahr soll ein ganz neuer Wettbewerb an ihre Stelle rücken: eine gemischte Staffel, 42 Kilometer lang insgesamt, eine Anleihe vom Marathon. Ein Geher und eine Geherin pro Nation teilen sich dabei die Arbeit, erst geht der Mann 10,5 Kilometer, dann die Frau, dann das Gleiche noch mal. Man wolle "das Können von Frauen und Männern in einer Disziplin" ins Schaufenster rücken, sagte Jon Ridgeon, der Geschäftsführer des Weltverbands, als er das neue Format im vergangenen Jahr präsentierte. Dieses sei "dynamisch und unberechenbar", ein großer Gewinn also.

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Sebastian Coe wird mit überwältigender Zustimmung in seine dritte Amtszeit als Präsident des Leichtathletik-Weltverbands geschickt. Doch der Brite hat längst das höchste Amt im Weltsport im Blick - das des IOC-Chefs.

Von Johannes Knuth

Linke bestreitet in Budapest seine siebten Weltmeisterschaften, er hat sich über die Jahre verlässlich an der Spitze gehalten, wie so viele Kollegen im deutschen Gehen. Er kleidet seine Worte in klare, nüchterne Sätze, als erkläre er dem Gegenüber gerade das Einkommenssteuerformular, Anlage AV13 - aber das nimmt seiner Botschaft nicht die Kraft. "Ich glaube nicht, dass sich das ein Ausdauerfreund überlegt hat", sagte er in Budapest.

Linke hat das bei den deutschen Meisterschaften auf der Bahn neulich mal ausprobiert, erst die 5000 Meter, dann die 10 000, dazwischen eine Pause, in etwa wie bei der neuen Staffel. "Ich habe festgestellt: Das ist fast unmöglich", sagte er. In der Single-Mixed-Staffel im Biathlon funktioniere das vielleicht, aber da seien die Belastungen kürzer, kaum vergleichbar mit zwei mal 40 Minuten Hochleistungsgehen: "Das ist für den Körper schon sehr intensiv." Statt Unberechenbarkeit, die sich die Schöpfer des Formats versprechen, glaube er eher an eine Undurchführbarkeit - "zumindest, wenn es ein hohes Niveau haben soll". Und dass das Format erst bei Olympia das erste Mal so richtig in der Praxis erprobt wird, darin erkenne er "ein Experiment auf Kosten der Athleten".

Linke schmerzt das auch deshalb, weil sein Sport endlich so weit sei, aus der Nische zu rücken, die Weltspitze sei so gut besetzt und stark wie selten - die 20 Kilometer am Samstag waren nicht das schlechteste Beispiel. Stattdessen werde die Langstrecke, die mit den 35 Kilometern (noch) im WM-Programm steht (und für die Linke am Donnerstag den nächsten deutschen Rekord verspricht), wohl allmählich verschwinden. Denn bei den Spielen sind nun ja die neuen, offenkundig bedingt ausgereiften Staffelformate gefragt. Bleiben noch die 20 Kilometer als Bühne, und auf der präsentierte Linke am Samstag zumindest eine eindrückliche Botschaft für das gebeutelte deutsche Team: "Auch wenn die Vorbereitung nicht optimal war mit vielen Ausfällen, man soll an sich glauben und kämpfen", sagte Linke: "Ich hoffe, dass sich viele daran ein Beispiel nehmen."

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