Start der Leichtathletik-Saison:Neuland ohne Übertreten

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Weitsprung ohne Balken? Malaika Mihambo, die Olympiasiegerin aus Deutschland, findet, die Idee habe ihre Berechtigung. (Foto: Tilo Wiedensohler/Camera4+/Imago)

Mini-Weltmeisterschaften jedes Jahr, Weitspringen ohne Balken, Gespräche mit Saudi-Arabiens Investoren: Weltverbandspräsident Sebastian Coe macht sich daran, die Leichtathletik tiefgreifend umzubauen - zum Wohle aller Beteiligten?

Von Johannes Knuth

Er glaube, hat Sebastian Coe einmal in einem Interview erzählt, dass er "bloß ein altmodischer Tory" sei. Coe erwischte jedenfalls, nachdem er als 34-Jähriger gerade seine Karriere als zweimaliger Olympiasieger im Mittelstreckenlauf beendet hatte, erstaunlich schnell eine Fahrspur ins Herz des britischen Konservativismus: Er brachte es bis zum Stabschef unter dem Parteichef William Hague. Als der 2001 zurücktrat, wechselte Coe geschmeidig die Spur, bastelte mit der Labour-Regierung an Londons Olympiabewerbung für 2012. Seine konservative Aura pflegte der Lord aber weiter: Er glaube etwa, dass eine Regierung sich nicht groß im öffentlichen Sektor einmischen sollte, wenn überhaupt.

Da klingt es schon ulkig, wenn der einstige Tory, der seit 2015 den tief konservativen Leichtathletik-Weltverband regiert, nun mit Macht an der bestehenden Ordnung rüttelt. "Die größte Gefahr unseres Sports ist, dass wir von Haus aus konservativ sind", sagte Coe bei den Weltmeisterschaften im vergangenen Jahr in Budapest. Und, kürzlich: Wenn man künftig noch im Alltag vor allem junger Menschen Platz finden wolle, dürfe man sich nicht in Debatten darüber verlieren, ob die Weitspringer künftig sechs oder fünf Versuche absolvieren: "Wir müssen die Art, wie wir unseren Sport präsentieren, signifikant verändern."

Der Weitsprung-Olympiasieger droht damit, die Disziplin zu verlassen

Das ist eine These, die selbst unter Tory-Leichtathleten unstrittig ist. Strittiger ist, ob die Umbaupläne des Leichtathletik-Regierungschefs nicht eher das Gegenteil von dem erreichen könnten, was sie versprechen.

Eine Gruppe, die bald in den Genuss signifikanter Innovationen kommen könnte, sind die Weitspringer. Der Weltverband hatte zuletzt Pläne vorgestellt, den Absprungbalken durch eine Zone zu ersetzen, die effektive Weite jedes Springers zu messen. Damit wolle man die hohe Zahl an Fehlversuchen minimieren, die das Publikum abschrecken würden. Die Argumentation wirkt bedingt schlüssig - müsste man im Stabhochsprung, der trotz vieler Fehlversuche fasziniert, dann nicht auch die effektive Höhe messen? Die Szene protestierte jedenfalls laut. Sein Sport lebe gerade vom Reiz, Tempo und Präzision am Brett zu mischen, sagte Miltiadis Tentoglou, der Olympiasieger aus Griechenland. Sollte alles so kommen wie geplant, "werde ich keinen Weitsprung mehr machen". Malaika Mihambo, die Olympiasiegerin aus Deutschland, war bis zuletzt recht einsam mit ihrer Meinung, die Idee habe ihre Berechtigung, weil so das volle Leistungsvermögen erfasst werde.

Olympiasieger vor ungewisser Zukunft: Miltiadis Tentoglou, hier auf dem Sprung zu EM-Gold 2022 in München. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Es sind solche Beispiele, die viele Beobachter darin bestärken, Coe verbessere die Leichtathletik nicht, er verschlimmbessere sie. "Ich denke, man müsste viel mehr auf dem Fundament aufbauen, das es schon gibt", sagte Karsten Warholm, Weltrekordhalter und Olympiasieger über 400 Meter Hürden, schon 2019 im SZ-Interview: "Wir haben doch schon viele Athleten und Persönlichkeiten", Disziplinen für jeden Geschmack. Aber: "Wir erzählen die Geschichten unseres Sports zu schlecht." Wer die Leichtathletik bloß beim Großevent verfolgt - jenseits davon geht die TV-Präsenz seit Jahren zurück -, weiß tatsächlich oft nicht, wer da in die Grube hüpft, ob mit Balken oder nicht.

Wer eine Geschichte erzählen will, braucht allerdings eine verbindende Idee, eine Wettkampfserie, in der sich die Protagonisten verlässlich verabreden. In Coes Amtszeit erhielt die Diamond League, die diese Serie sein soll, zwar einen chinesischen Titelsponsor, weshalb die Tour an den kommenden Wochenenden in Xiamen und Shanghai beginnt. Die Startfelder wirken aber noch immer beliebig, auch bei unterklassigen Meetings: weil, grob gesagt, die Besten nicht zwingend starten müssen bei Preisgeldern von maximal 10 000 Dollar pro Sieg, der Rest indes gezwungen ist, eigenen Interessen zu folgen. Seit viele Startplätze bei Großereignissen über eine Weltrangliste verteilt werden (die unter Coe eingeführt wurde), brauchen Athleten Punkte. Und da viele Wettkämpfe in der zerklüfteten Meeting-Landschaft unterschiedlich viele Punkte versprechen, tingeln die Athleten zu den Standorten, die ihrem Punktekonto am besten tun. Dabei konnte es zuletzt gewinnbringender sein, Erster in einem schwachen Startfeld zu werden statt Fünfter in einem starken.

Leichtathletik-Ikone Michael Johnson will eine eigene Meeting-Serie gründen

Walter Weber, der Chef des traditionsreichen Mehrkampfmeetings in Götzis, führte unlängst aus, wie sehr das der Szene schade. Er könne kaum ein gesichertes Starterfeld für sein Meeting Ende Mai präsentieren, weil sich viele Athleten verschiedene Optionen offenhielten, baugleiche Meetings oft zeitlich kollidierten. Die Lage hat sich verschärft, seit der europäische Leichtathletikverband seit 2016 auch im Olympiajahr seine Europameisterschaften austrägt, diesmal Anfang Juni in Rom. Viele Mehrkämpfer starten deshalb gar nicht in Götzis, sondern gleich in Italien - und dann in Paris.

Statt weniger hat Coe aber noch mehr im Sinn: Weltmeisterschaften alle zwei Jahre, das reiche nicht. Er wünsche sich ein "großes, schlagkräftiges, globales Event in jedem Jahr", sagte er in Budapest, die besten Athleten in einem gestrafften Feld, eine Mini-WM. 2026 soll es losgehen.

Bleibt abzuwarten, was davon zur Vollendung reift. Die Revolution biegt gerade auch von anderer Seite um die Ecke: Michael Johnson, die einstige 400-Meter-Ikone aus den USA, kündigte zu Jahresbeginn an, ab 2025 eine eigene, bessere Diamond League auf den Markt zu bringen: nur die besten Athleten, bessere Präsentation und, klar, bessere Entlohnung als jene 10 000 Dollar, die ein Sieger in der Diamond League derzeit bezieht. Man stelle dafür "keine kleine siebenstellige Summe" als Investition bereit, sagte Johnsons Geschäftspartner Eric Winston. Der Amerikaner Noah Lyles, eines der schillernden Gesichter der aktuellen Leichtathletik, begrüßte die Pläne als "sehr aufregend".

Und Coe? Der hat, neben der Idee, den Besten bei Olympia künftig Preisgelder zu zahlen, offenbar einen Plan, gegenzusteuern. Er dementierte zuletzt nicht, dass er mit Saudi-Arabiens Herrschern darüber verhandelt hat, deren Geld, wie in so vielen anderen Sportarten, künftig auch in die Leichtathletik zu leiten. Ob das die "signifikante Veränderung" ist, auf die der Sport gewartet hat?

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