Leichtathletik:Flugschau in Oklahoma

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Mit 21 Jahren schon Europameister, WM-Zweiter und -Dritter - und nun Weltrekordhalter: Mykolas Alekna, hier bei seinem Goldtriumph 2022 in München. (Foto: Vegard Grott/Bildbyran/Imago)

Die Leichtathletik ist auch im Frühjahr 2024 in Rekordlaune: Der Litauer Mykolas Alekna überbietet den fast 38 Jahre alten Diskus-Weltrekord des Schweriners Jürgen Schult - allerdings mit meteorologischer Nachhilfe.

Von Johannes Knuth

Das sogenannte Werfermeeting in Ramona im US-Staat Oklahoma hatte bis zuletzt nicht gerade überbordende Berühmtheit erlangt, auf Luftbildern sieht man Anlaufbahnen und Ringe, umsäumt von Ackerflächen und sonst - nichts. Trotzdem las sich die Gästeliste am vergangenen Wochenende illuster, und die Startplätze für das Event im kommenden Jahr dürften spätestens seit Sonntagabend ausgebucht sein.

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Die Internetenzyklopädien werden wohl bald ein neues Wahrzeichen für Ramona listen: eine Wetterlage, die den Wind derart verlässlich über die Äcker treibt, dass die Scheiben der Diskuswerfer auf beachtliche Weiten segeln. Die Kubanerin Yaime Perez eröffnete die Flugschau am Wochenende mit 73,09 Metern, weltweit hatte seit 1989 keine Frau weiter geworfen. Kurz darauf steigerten acht der ersten neun Männer ihre Bestleistungen, darunter der Hamburger Mika Sosna, vor zwei Jahren Zweiter bei der U20-WM, der sich nun um über drei Meter steigerte, auf 68,96. Und dann hob der Litauer Mykolas Alekna sogar eine der umstritteneren Marken der Leichtathletik aus den Angeln: Er warf 74,35 Meter und somit 27 Zentimeter weiter als der Schweriner Jürgen Schult im Juni 1986. Das war, bis zum Sonntag in Oklahoma, der älteste Weltrekord der Männerleichtathletik.

Sechs Würfe über 70 Meter - das gab es in einem Diskuswettkampf wohl noch nie

Es gibt diese Tage in den Wurfdisziplinen, da fließt alles zusammen, selbst Mitte April, drei Monate vor der olympischen Hauptvorstellung. Jürgen Schult hat früher gerne erzählt, dass er 1986, bei seinem Rekord im Neubrandenburger Jahnstadion, bestenfalls 70 Meter draufhatte - dann habe eine Böe von rechts seine Scheibe erfasst und getragen wie auf einem Kissen. Anlagen, die solche Weiten fördern, gibt es in der Leichtathletik freilich zuhauf, erst im vergangenen März trug es den Speer von Max Dehning in Halle auf 90,20 Meter, nachdem der 19-Jährige zuvor noch nie 80 Meter übertroffen hatte. Auch in Ramona, vermeldete der Weltverband, seien die Athleten mit "perfektem" Wind gesegnet gewesen. So schuf Alekna eine Serie, die es wohl noch nie gab: Der 21-Jährige begann mit 72,21 Meter - fast ein Meter weiter als seine alte Bestleistung - steigerte sich auf 72,89, bot 70,32 und 70,51 an, schlurfte in Runde fünf mit schwarzem Trikot und ohne Startnummer in den Ring, drehte sich, reckte den Finger - Weltrekord. Er rundete den Tag mit 70,50 ab. Nicht ein Wurf war vor der 70-Meter-Marke gelandet.

Jürgen Schult übermittelte dem Nachfolger flugs die branchenüblichen Glückwünsche, "ich konnte mich 38 Jahre darauf vorbereiten und wusste, dass es passieren kann", sagte er dem Sportinformationsdienst. Womöglich ist der 63-Jährige auch ganz froh, dass er jetzt nicht mehr der Rekordhalter ist, dessen Werk ständig mit den Begleiterscheinungen der damaligen Zeit verknüpft wird. Der DDR-Staatsdopingplan soll für Schult in den Achtzigerjahren hohe Dosen von Oral-Turinabol vorgesehen haben, Weggefährten und Wissenschaftler haben das untermauert, Dosierungen aufgezeichnet. Der Rekordmann bestritt trotzdem stets, mit Anabolika gedopt zu haben, eine Falschaussage in diesem Kontext brachte ihm 2001 eine Geldauflage von 12 000 D-Mark ein.

Jürgen Schult im Jahr 1991 im Wurfring. (Foto: Werner Schulze/Imago)

Alekna kann man das alles nicht anlasten. Er kam 16 Jahre nach Schults Fabelwurf zur Welt, als Sohn eines gewissen Virgilijus Alekna, der zweimal Olympiagold mit dem Diskus gewann, Bestweite 73,88 Meter. Diese Weite hat sein Sohn nun an die dritte Stelle der historischen Bestenliste geschubst. Es ist jedenfalls Fluch und Segen eines derart messbaren Sports: Die Athleten kämpfen nicht nur gegen das Maßband, sondern auch gegen die Vergangenheit. Und anders als in den Laufdisziplinen kann man im Wurfbereich nicht so leicht auf neuartige Schuhmodelle zeigen, die Leistungsschübe versprechen.

Die Diskuswerfer, allen voran der Slowene Kristjan Ceh und der Schwede Daniel Stahl, hinderte das in den vergangenen Jahren aber nicht daran, die alltäglichen Maßstäbe zu verschieben. Und Alekna hat, seit er 2022 an die UC Berkeley und ins vielgerühmte College-System wechselte, sich von diesem Sog ziehen lassen, er gewann seitdem WM-Silber (2022), WM-Bronze (2023), EM-Gold (2022). Nun also der Weltrekord, der den Ruhm mehrt - und den einer Anlage in Oklahoma.

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