Wenn man die Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye in diesem bislang größten Moment ihrer Karriere beobachtete, fiel auf, was sie alles nicht anstellte. Keine Luftsprünge, kein Gebrüll, kein Sprint Richtung Tribüne in einem Tempo, das manchem Sprinter die Blässe ins Gesicht treiben würde - wie im vergangenen Jahr in Budapest, als sie in der WM-Qualifikation 19,44 Meter gestoßen hatte. Stattdessen schlug Ogunleye nun, in der Emirates Arena in Glasgow, die Hände über dem Kopf zusammen und stand erst mal so da, ganz still.
Dass sie bei der Hallen-WM in der schottischen Kapitale die Chance hatte, die Großen zu kitzeln, war abzusehen gewesen - die 25-Jährige hatte Ende Januar schon 19,57 Meter gestoßen und dabei Chase Jackson geschlagen, die Freiluftweltmeisterin aus den USA. Aber auf diese Bestleistung noch mal über einen halben Meter zu schnallen? 20,19 Meter, drei Zentimeterchen hinter Siegerin Sarah Mitton aus Kanada, über einen halben Meter vor Bronzegewinnerin Jackson? "Das ist so surreal", sagte Ogunelye. Nebenbei hatte sie dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) nach der Null-Medaillen-Ohrfeige von Budapest gleich im ersten Wettkampf in Glasgow die erste und bis Sonntag einzige Medaille beschert (Mikaelle Assani, 21, aus Karlsruhe verpasste am Sonntagabend Bronze im Weitsprung nur um einen Zentimeter und wurde mit 6,77 Metern Vierte).
Leichtathletik:"Rosi from the Black Forest"
Im Olympiajahr zeigen sich in der Leichtathletik neue Gesichter - wie Hürdensprinterin Rosina Schneider, 19, die einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen hat: zwischen den USA, Jamaika, Schwarzwald und Schwäbischer Alb.
Im Kugelstoßen waren die Frauen zuletzt immerhin in der Breite passabel vertreten, dank Sara Gambetta etwa, 2021 Achte bei Olympia, die ihre Karriere zuletzt des Studiums wegen beendete. Bei den Männern wiederum fehlen den DLV-Vertretern derzeit bis zu drei Meter auf die Weltspitze - bei der Drehstoßtechnik, längst Goldstandard in der Elite, war der DLV lange Jahre nun mal nicht Vorreiter, freundlich gesagt. Die letzten großen Erfolge stammten von Angleitern wie David Storl (der seine Karriere zuletzt ebenfalls beendete) und Christina Schwanitz: Sie gewann 2019 in Doha die bis dato letzte WM-Medaille einer deutschen Frau, und die 20 Meter, ein Gütesiegel für Weltklasse, hatte ebenfalls Schwanitz zuletzt 2018 übertroffen - bis Ogunleye kam.
Ihr Aufstieg erzählt allerdings weniger von ausgefeilten Verbandsreformen, sondern von Zufällen und einer Sportlerin, die sich trotz großer Rückschläge nicht vom Glauben abbringen ließ, in vielerlei Hinsicht. Als sie 15 war, wackelte ihre Karriere - Ogunleye, damals Siebenkämpferin, hatte einen schweren Kreuzbandriss erlitten. Sie zog, auch auf Vermittlung ihrer Mutter, nach Mannheim zu Iris Manke-Reimers, die damals Diskuswerferin Shanice Craft betreute und ihre Trainerkarriere bald beenden wollte. Irgendetwas sah sie aber in diesem "frisch operierten Mädel", wie Ogunleye einmal erzählte - jedoch im Kugelstoßen. Und auch da war Ausdauer gefragt: ein zweiter Kreuzbandriss, Kniebeschwerden, das Studium nebenbei - Ogunleye fragte sich oft, ob das alles mit Hochleistungssport vereinbar sei. Auch, weil vom Verband "meist ziemlich wenig Rückmeldung" kam.
Athletin und Trainerin brachten sich das Drehstoßen selbst bei
Andererseits "war da immer so eine Zuversicht in meinem Herzen", eine, die sich vor allem aus ihrem Glauben speist. Ogunleye sang im Chor, arbeitete in der Gemeinde mit Jugendlichen, spürte, "dass es da jemanden gibt, der mir die Kraft dafür gibt, Herausforderungen zu überwinden" - ob im echten Leben durch Mobbing, oder im Sport, wenn Kniebeschwerden das Angleiten unmöglich machten. Sie wagte sich an die Drehstoßtechnik, die größere Explosivität und Weiten verspricht, aber viel Übung einfordert - was dadurch erschwert wurde, dass Ogunleye und ihre Trainerin sich viele Grundzüge selbst beibringen mussten. Über Trainer im Ausland und bei DLV-Stützpunkttrainer Artur Hoppe ereilte sie Hilfe - bis das vergangene Jahr zeigte, was möglich ist, wenn ein Talent an die richtige Lehre gerät und verletzungsfrei bleibt. Was mit 18,14 Metern begann, endete im WM-Finale von Budapest, auch wenn Ogunleye nach Bestweite in der Qualifikation nicht mehr ganz den Dreh raus hatte, mit 18,97 Metern und Platz zehn. Sie habe daraus gelernt, ihre Emotionen etwas zu drosseln, die Kraft zusammenzuhalten, erzählte sie in Glasgow - deshalb ihr zunächst sparsamer Jubel.
Hallenleichtathletik ist immer mit Vorsicht zu genießen, viele Führungskräfte bereiten sich gerade auf den Olympiasommer vor, auch wenn die Niederländerin Femke Bol in Glasgow in 49,17 Sekunden einen Hallenweltrekord über 400 Meter anbot. 20 Meter, das weckt jedenfalls so oder so Hoffnungen in einem Jahr, in dem die Deutschen einiges gutzumachen haben. "Das macht mir keinen Druck", sagte Ogunleye, "nur Freude und Zuversicht." Wer ihre Geschichte kennt, ahnt, dass das keine Floskel ist.