Leichtathletik:Tag der Debütanten

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Als Erster im Ziel: Philimon Kipchumba aus Kenia. (Foto: Norbert Wilhelmi/oh)

Beim München-Marathon verbessert die Elite beide Streckenbestzeiten, vor allem zwei Premieren erstaunen. Und alles gipfelt in einem beinahe kitschigen Zieleinlauf.

Von Andreas Liebmann

Eine Dreiviertelstunde hat das führende Dutzend schon in den Beinen. Die rein afrikanische Gruppe von Läufern federt gerade durch den Englischen Garten. Geführt von drei Tempomachern, die minutiös den Takt vorgeben, umsichtig antreiben oder bremsen. Sie sind, dicht an dicht, auf dem Weg zu einem neuen Streckenrekord - so haben sich die Veranstalter das zumindest fest vorgenommen. Zur gleichen Zeit werden einige Kilometer westlich im Olympiastadion Hunderte Kinder und Jugendliche auf die Strecke geschickt.

Prägnanter ist kaum zusammenzufassen, was der München-Marathon in diesem Jahr hinbekommen wollte. Die Läuferzahlen nach der Pandemie sollten wieder steigen, zurück zum Massenwettkampf, der auf eine breite Basis Laufbegeisterter setzt. Auf knapp 18 500 Sportlerinnen und Sportler addiert sich am Wochenende das Programm des Marathons (4334) samt Trachten-, Zehn-Kilometer-, Halbmarathon- und Staffellauf. Noch nicht ganz die alte Größe, aber fast. Cheforganisator Gernot Weigl hat in der Pressekonferenz am Freitag betont, wie sehr ihn vor allem die Zahl 822 freue - die Anmeldezahl für den Nachwuchs im Minimarathon, Ergebnis einer Kooperation mit dem Bayerischen Leichtathletik-Verband und der Aktion "Lauf dich fit" an Münchner Schulen.

Organisator Weigl schwärmt von einer Sternstunde, von einer neuen Dimension der Veranstaltung

Dem gegenüber also die Führenden, die am Sonntagmorgen ganz andere Ziele verfolgen. Minutiös geplant haben die Organisatoren um Athletenmanager Christoph Kopp deren Streckenrekordjagd, die am Ende in zwei hübschen Zahlen bestätigen soll, dass der Marathon 2022 bei Frauen und Männern so gut besetzt ist wie nie zuvor. Erstmals nach 2001 hat die Veranstaltung wieder ein internationales Topfeld am Start. Dahinter steht die Verpflichtung, die ihnen das zu Pandemiebeginn erworbene Elite-Label des Internationalen Leichtathletik-Verbands auferlegt. So ist etwa die Äthiopierin Mare Dibaba dabei, die 1,51 Meter kleine Weltmeisterin von 2015, ihre Landsfrau Aberu Mekuria oder die Kenianerin Agnes Keino, alle mit Bestzeiten unterhalb des Münchner Rekords von 2:32:11 Minuten. Und bei den Männern Gezahagn Mengistu Zelalem mit einer Bestzeit von 2:08:48 Stunden und sein äthiopischer Landsmann Tsegaye Mekonnen, der schon 2:04:32 lief, beides unter der Münchner Marke von 2:09:46. Dazu einige schwer einzuschätzende Marathon-Debütanten.

Und alles läuft perfekt: Es ist kühl und windstill.

Nicht alle der Hochgehandelten erfüllen die Erwartungen. Aberu Zennebe aus dem Top-Trio der Frauen muss nach einer Stunde abreißen lassen, ausgangs der Rosenheimer Straße hängt dann Agnes Keino Mare Dibaba ab. Auch bei den Männern wird die Gruppe immer kleiner, selbst Favorit Mekonnen verschwindet. Und tatsächlich setzt sich in Philimon Kipchumba aus Kenia ein 23-jähriger Debütant durch, der kurz vor Schluss das Tempo so anzieht, dass es zum Streckenrekord reicht: 2:07:28. Bei den Frauen gelingt Keino die neue Bestmarke: 2:23:26.

Geschäftsführer Weigl empfängt sie im Ziel mit Luftsprüngen. Er sei so oft angesprochen worden, ob der Münchner Marathon nicht mehr internationales Gewicht haben sollte, erläutert Weigl, nicht nur von Geldgebern. Dies sei nun der erste Schritt. Man habe die letzten Jahre gut gehaushaltet und so nun einen sechsstelligen Betrag in die Elite stecken können. Dies sei auch für ihn eine "Sternstunde", eine "neue Dimension", seit er die Leitung vor 22 Jahren übernahm.

Kurz bevor der Olympiasieger um die Ecke biegt, brandet mal wieder der Applaus auf - exakt wie vor 50 Jahren

Es gibt dann noch einen Debütanten, den er im Ziel mit wildem Jubel empfängt: Sebastian Hendel von der LG Braunschweig, bislang 10 000-Meter-Bahnspezialist, dringt in seinem ersten Marathon als Vierter in die afrikanische Phalanx ein, in 2:10:37 Stunden. Weil er die EM verpasst hat, ist er zum ersten Mal in München. "Eine große Stadtrundfahrt zu Fuß" habe er absolviert - und er ist dabei schneller als Frank Shorter bei seinem Olympiasieg von 1972.

Shorter, der als Ehrengast den Startschuss gab, ist dann lange nicht zu sehen im Stadion. Als er wieder auftaucht, keucht er, der Gang von Hüftschmerzen gezeichnet. Mit fast 75 ist er tatsächlich die zehn Kilometer mitgelaufen. Und die fügen sich zu einem beinahe kitschigen Zieleinlauf. Denn durch einen irren Zufall wird Shorter kurz vor dem Stadiontunnel tatsächlich vom späteren Marathonsieger abgefangen, weshalb im Stadion dessen Applaus aufbrandet, kurz bevor auch Shorter den Innenraum erreicht. Wie damals, 1972, als ein Sechzehnjähriger sich ins Rennen mogelte und seinen Beifall stahl. "Es musste so sein", sagt Shorter später. "Ein perfekter Tag!"

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