Kopfverletzungen im Fußball:Immer auf den Schädel

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Stuttgarts Christian Gentner erlitt im September im Spiel gegen Wolfsburg Frakturen im Gesicht und eine Gehirnerschütterung. (Foto: Alexander Keppler/Imago)
  • Die Folgen von Kopfbällen und Gehirnerschütterungen werden massiv unterschätzt.
  • Statt über den Schutz der Spieler nachzudenken, hält der Fußball lieber an Helden-Mythen fest.
  • In den Vereinen und Verbänden muss ein Umdenken stattfinden.

Von Werner Bartens

Auch im Land der Dichter und Denker müssen Fußballprofis nach ihrer Karriere nicht unbedingt Literaturprofessoren oder Astrophysiker werden. Aber so viel Verwirrung war selten: Bayern Münchens Offensivspieler James Rodríguez wusste am vergangenen Samstag in der Halbzeitpause der Partie bei Borussia Mönchengladbach (1:2) den Spielstand nicht mehr. Sein Gegenspieler Tony Jantschke war nach dem Zusammenprall mit James so desorientiert, dass er ins Krankenhaus musste. Und Gladbachs Weltmeister Christoph Kramer wurde schon nach zehn Minuten benommen vom Platz getragen. Er hatte mit voller Wucht Bekanntschaft mit der Schulter des Teamkollegen Jannik Vestergaard gemacht; sein Kopf wurde dabei hin und her geschleudert wie ein Flummi.

Zur Erinnerung: Kramer ist jener Mittelfeldspieler, der sich im WM-Endspiel 2014 nach einem Check eines argentinischen Gegenspielers an nichts mehr erinnern konnte und den Schiedsrichter fragte, ob er tatsächlich im WM-Finale stand ("ich muss das wissen"). Kramer bekommt auch sonst viel auf den Kopf. Am vierten Spieltag trat Leipzigs Naby Keita ihm mit dem Fuß ins Gesicht. Im nächsten Spiel gegen Stuttgart prallte Kramer erneut mit einem Gegenspieler zusammen, erlitt eine Schädelprellung sowie eine Platzwunde.

Gesund ist das alles nicht. Gladbachs Trainer Dieter Hecking hat sich nach Kramers neuerlicher Kopfverletzung nun dafür ausgesprochen, die Spieler vor solchen Attacken auf das Hirn zu bewahren: "Man wird sich überlegen müssen, wie man Spieler besser schützen kann", sagte Hecking. "Da sind auch Mediziner gefragt."

Reaktionen wie: "Ich kann nur den Hut vor ihm ziehen"

Ärzte wissen allerdings längst, wie schädlich die ständigen Stöße gegen den Kopf sind. Ein Umdenken müsste in den Vereinen und Verbänden stattfinden. So lobten Trainer und Vorstand des VfB Stuttgart ihren Kapitän Christian Gentner, der sich am Wochenende wieder in etliche Luftzweikämpfe geworfen hatte, obwohl er im September im Spiel gegen Wolfsburg Frakturen im Gesicht und eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Solange die Reaktionen lauten: "Ich kann nur den Hut vor ihm ziehen" und "Riesenkompliment an ihn, er hat eine enorme Willensstärke" - anstatt: "Pass auf deinen Kopf auf!" -, sind Einsicht und Vorsicht kaum zu erwarten.

Wahrscheinlich ist das auch zu viel verlangt in einem Land, das mit Bud-Spencer-Filmen groß geworden ist. Der italienische Kraftprotz gab seinen Kontrahenten ständig von oben eins auf die Rübe oder er packte zwei Halunken am Kragen und stieß sie donnernd mit den Schädeln gegeneinander. Sie berappelten sich kurz und rannten dann erneut an, als wäre nichts geschehen. Aber es geschieht eben doch etwas.

"Die Geschwindigkeiten werden im Sport immer höher - aber der Kopf muss da rausgehalten werden!", fordert Florian Heinen, Experte für Hirnentwicklung an der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Ansonsten drohen dramatische Gesundheitsschäden." Die physischen Kräfte gegen das Gehirn "addieren sich auf wie Röntgenstrahlen, man wird den Schaden nicht mehr los". Heinen plädiert in letzter Konsequenz sogar für Fußball ohne Kopfball: "Zwar passieren solche Traumata nicht nur beim Kopfball, aber wenn der nicht mehr zugelassen wäre, würden die Luftkämpfe weniger." Das mag für Fußballer und Fußballfans erst mal abwegig klingen. Für Mediziner ist es das keineswegs.

Früher lernten angehende Ärzte noch, dass eine Gehirnerschütterung zwar lästig ist, aber nach einer Phase der Erholung keine bleibenden Schäden zu befürchten seien. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Schlägen und Stößen an den Kopf kommt es zu Mikrotraumen. "Die Nervenfasern werden gedehnt und überdehnt. Sie zerreißen zwar nicht, aber geraten über die Grenze ihrer Belastbarkeit", sagt Heinen: "Man muss sich das vorstellen wie ein verflochtenes Seil, in dem etliche Fasern anreißen." Zunächst sind diffuse Beschwerden wie Schwindel, kurze Bewusstlosigkeit und leichte kognitive Schwächen die Folge. Bei zusätzlichen Erschütterungen reißen weitere Nervenbahnen an. Langfristig drohen motorische Beeinträchtigungen und eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit.

Zudem reagiert das Gehirn anders als der Rest des Körpers auf Gewalt. Wie Wackelpudding in einer Schale liegt das Gehirn im Schädel. Bei einer Beschleunigung wird die Traumatisierung weitergeleitet wie Wellen im Teich. Der Stoß gegen die Schädeldecke an der einen Seite führt zu einem Gegenstoß an der anderen. Es dauert, bis die Erschütterung abgeklungen ist. "Von außen sieht es aus, als ob mit einem Rums alles vorbei ist", sagt Heinen, "für das Gehirn ist das aber nicht so, da gibt es Stoßwellen hin und her, die brechen sich, und Scherkräfte wirken sich womöglich ganz woanders aus." Und dann reißen mehr und mehr Fasern in den Nervenbahnen oder werden überdehnt. Das Gehirn kann zwar viel kompensieren, aber das ist gerade ein Problem: "Es muss schon viel im Inneren des Schädels passieren, damit Außenstehende überhaupt etwas bemerken", sagt Heinen, "deshalb wird das Thema so unterschätzt."

Für ein Land, in dem ständig betont wird, dass mangels anderer Rohstoffe die Köpfe der Menschen die wichtigste Ressource sind, ist es erstaunlich, wie weit die Forschung hinterherhinkt. In der neuen Ausgabe des Fachmagazins Lancet Neurology findet sich eine umfangreiche Analyse zur Traumatic Brain Injury, der traumatischen Hirnverletzung. Während Zahlen aus den USA belegen, dass Hirnschäden durch College- und Highschool-Sport dort in jedem Jahr (!) um sieben bis 15 Prozent zunehmen, beklagen die Autoren, dass in Europa "quer durch alle Sportarten die Forschung zur Häufigkeit sportbedingter Verletzungen fehlt".

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In den USA geriet das Thema insbesondere durch das dramatische Schicksal ehemaliger Footballprofis auf die Tagesordnung. Bei 96 Prozent der untersuchten Gehirne verstorbener Ex-Spieler der Profiliga NFL wurde Chronisch-Traumatische Enzephalopathie (CTE) nachgewiesen, Dutzende hatten wegen Gedächtnisverlust, Depressionen und Demenz Selbstmord begangen. Die Profiliga NFL legte für rund 18 000 Betroffene einen Entschädigungsfonds auf. Im US-Fußball gibt es für Jugendspieler ein Kopfballverbot - besorgte Eltern hatten die Verbände verklagt. Und in vielen Sportarten folgt der Umgang mit Kopfverletzungen einem klaren Protokoll. In Deutschland? Sind Kicker, die mit Brummschädel weiterspielen, die Helden, im Stadion wie auf dem Ascheplatz.

Kein Wort davon, welche fatalen Folgen insbesondere der "Second Hit" hat: Nach einem leichten Schädelhirntrauma, beispielsweise einem harten Kopfstoß, spielen die Athleten weiter, obwohl sie nicht mehr so gut reagieren können. Damit erhöht sich die Gefahr, erneut geschädigt zu werden. "Das ist besonders kritisch, weil die neuerliche Krafteinwirkung auf ein verletzlicheres Gehirn trifft", sagt Heinen. Immer öfter werden Fälle bekannt wie jener von Jeff Astle, einem kopfballstarken Fußballprofi von West Bromwich Albion, für dessen frühen Tod Rechtsmediziner "wiederkehrende Hirnschäden" verantwortlich machten. Der englische Verband leugnet das.

Vor wenigen Monaten hatten kanadische Ärzte eine Analyse veröffentlicht, wonach es in den 64 Spielen der Fußball-WM 2014 insgesamt 72 Schädel-Kollisionen gab. Nur in 15 Prozent der Fälle wurden die Spieler überhaupt kurz an der Seitenlinie untersucht, meist ging es nach einem kurzen Schütteln sofort weiter. Jedes Wochenende knallen im Fußball die Schädel der Helden gegeneinander. Die Schäden zeigen sich erst viel später.

© SZ vom 29.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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