Köln gegen Leipzig:Ein 1:1 wie ein 5:5

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Moment der Überwältigung: Nach dem 1:0 weint der Kölner Anthony Modeste beim Torjubel - im Gedenken an seinen vor drei Jahren gestorbenen Vater. (Foto: Moritz Müller/imago)

Der von Geburtshelfer Steffen Baumgart erneuerte 1. FC Köln trotzt RB Leipzig ein sehenswertes Remis ab. Der Videoreferee passt sich dem hohen Niveau an.

Von Philipp Selldorf, Köln

Was noch fehlte am Samstagabend in Köln-Müngersdorf, war ein Platzsturm der Besucher, die nach dem Spiel über den Rasen, die Tore und die Akteure hergefallen wären, jedoch nicht aus Wut und Enttäuschung, sondern aus Glück und Begeisterung. Begrüßenswerterweise blieben die 25 000 Gäste aber halbwegs ordnungsgemäß auf ihren Plätzen und begnügten sich damit, den 1. FC Köln und das Glück ihrer persönlichen Anwesenheit bei diesem Ereignis von Fußballspiel zu bejubeln. Der harte Kern in der heimischen Fan-Kurve unterließ es sogar, den ideologisch verfemten Gegner zu schmähen. Womöglich sahen die Leute es wie FC-Trainer Steffen Baumgart, der nach dem 1:1 (0:0) beide Mannschaften zu Siegern erklärte: Seine eigene - und den Herausforderer RB Leipzig, der den gleichen unbedingten Willen gezeigt hatte, die Partie zu gewinnen.

FC-Coach Baumgart stöhnt: "Ich hätte mich heute sehr glücklich gefühlt, auf der Couch zu sitzen und als neutraler Zuschauer zuzugucken."

Daraus entstand, wie Baumgart klassifizierte, ein "Spitzenspiel", das ihm nur einen Wunsch nicht erfüllte: "Ich hätte mich heute sehr glücklich gefühlt, auf der Couch zu sitzen und als neutraler Zuschauer zuzugucken." Doch auch im Stress genoss er den Abend offenbar: Man konnte ihn sogar herzlich lachen sehen, womit er einen Teil seines Gefühlslebens offenbarte, an dem er das Publikum ungern teilhaben lässt.

Selbst evangelische Kölner halten Baumgart bereits für einen bedeutenderen Reformer als Martin Luther, dabei steht der neue FC-Coach noch am Anfang seines Schaffens. Zuletzt hatte sich der Trainer beschwert, dass sein Team am vorigen Wochenende in Freiburg nicht versucht hatte, aus der 1:0- eine 2:0-Führung zu machen. "Mut" will Baumgart sehen, ungefähr jenen wilden Mut, der einen Freibeuter animiert, mit einem einzelnen Kanonenboot eine ganze Flotte anzugreifen.

Dies hat der FC diesmal getan gegen einen Gegner, der zweifellos mehr Pferdestärken, Hubraum und Zylinder aufweisen konnte. Die neuformierte Leipziger Elf muss zwar das Programm des neuen Trainers Jesse Marsch noch einstudieren und steckt erkennbar in einer komplizierten Phase der Kontaktaufnahme, aber sie besitzt sehr viel Kraft und Vermögen.

Andererseits ist auch der 1. FC Köln ein Team mit veränderten Schwerpunkten: Zum neuen Trainer, der wie ein Prediger, aber ohne Missionarseifer einen anderen Fußball lehrt, kommt eine Mannschaft, die mehrheitlich aus außerordentlich gut ausgesuchten Zugängen zu bestehen scheint. Bei einigen stimmt der Eindruck: Dejan Ljubicic wurde ablösefrei von Rapid Wien importiert, Luka Kilian für eine Handvoll Euro aus Mainz, Mark Uth aus Schalke. Aber der ungeheuer kraftvolle neue Torjäger war in Wahrheit als schwächliche Variante schon letzte und vorletzte Saison am Geißbockheim beschäftigt, und der neue zündende Rechtsverteidiger ebenfalls: Anthony Modeste, 33, und Benno Schmitz, 26, sind als Fußballer in diesem Sommer neugeboren worden - mutmaßlich dank des Geburtshelfers Baumgart.

Ihr neues Dasein haben sie gegen Leipzig bestätigt. Modeste schoss mit herrlicher Gewalt das 1:0 und brach darüber in Tränen aus, nicht etwa, weil der Schiedsrichter endlich mal einen seiner zahlreichen Treffer an diesem Abend anerkannt hatte, sondern weil er an seinen vor drei Jahren verstorbenen Vater denken musste. Schmitz wiederum war einer der vielen Beteiligten des Führungstores, das erst nach langer Untersuchung anerkannt wurde. Auch die Schiedsrichter waren nämlich Hauptdarsteller des Spiels.

Als um 20.22 Uhr Felix Brych dem Spektakel ein Ende machte, dürfte drüben auf der anderen Rheinseite im Stadtteil Deutz auch Robert Hartmann erschöpft aufgeatmet haben. Der Video-Beauftragte hatte einen harten Arbeitstag. Ständig waren sein kundiger Blick und sein Rat gefragt, er war der unsichtbare 24. Mann auf dem Feld und eine Figur, die immer wieder in den Mittelpunkt rückte. Das Kölner Publikum widmete ihm minutenlange Pfeif-Tiraden, aber es bejubelte auch seine Urteile.

Wenn der Video-Richter von fünf erzielten Toren vier wieder aberkennt oder in Zweifel zieht, kann er in den Ruf des Spielverderbers geraten und Zweifel an seinem Zweck hervorrufen. Aber dass dieses großartige Spiel den gerechten Ausgang fand, das war auch Hartmanns Verdienst. Er korrigierte, was zu korrigieren war und half damit den Feld-Schiedsrichtern mindestens zweimal aus der Verlegenheit, ohne dabei ihre Fehlbarkeit vorzuführen.

Modestes erster Treffer zählt nicht, der zweite zunächst auch nicht - dann aber doch

Die erste Hälfte hatte bereits große Unterhaltung mit zwei Pfostentreffern und zwei aberkannten Toren geboten, die zweite sollte noch besser werden. Es gab ein 1:0 durch Modeste, das nicht zählte (Abseits, knapp), und ein weiteres 1:0 durch Modeste, das zunächst auch nicht zählte, nach Hartmanns Hinweis und Brychs eingehender Prüfung am Bildschirm aber doch für rechtmäßig erklärt wurde (53.). Uth hatte den Leipziger Mohamed Simakan im Strafraum attackiert, was auf den ersten Schiedsrichter-Blick noch regelwidrig ausgesehen hatte, auf den dritten und vierten Blick aber nicht mehr. Nur Jesse Marsch ("klaares Foul") war nicht einverstanden, für ihn war der Eingriff des VAR falsch.

Leipzigs Simikan (links) protestiert bei Schiedsrichter Brych gegen die Anerkennung des Treffers per Videobeweis. (Foto: Marius Becker/dpa)

Darüber hinaus blieb für beide Teams genügend Spielraum für einen Sieg. Zwei Treffer waren eine arme Ausbeute in einer Partie, die aufregend war wie ein Endspiel und von Anfang bis Ende atemlos von Torchance zu Torchance hetzte. Die Krönung erfolgte in der dritten Minute der Nachspielzeit, als die Kölner Andersson und AnDuda binnen Sekunden zwei Gelegenheiten vergaben, die eine aus der Kategorie 99-prozentig, die andere aus der Kategorie 100-prozentig. Wie es Duda fertigbrachte, statt ins leere Tor in die Arme von RB-Torwart Peter Gulasci zu schießen, wird ihn selbst noch lange beschäftigen.

Was er bei der Szene dachte , wurde Baumgart gefragt, ihm sei "eigentlich eher wenig durch den Kopf gegangen", antwortete er: "Klar können wir diskutieren, ob das letzte Ding reingehen muss. Aber so ist das halt." Ein Kölner Sieg wäre verdient gewesen, ein Leipziger aber kein bisschen weniger. FC-Torwart Horn hatte nach dem Ausgleich (71.) mehrere RB-Großchancen vereitelt. So war das Remis die fairste Lösung. 1:1 stand am Ende auf der Anzeigetafel, ausgesehen hat es wie ein 5:5. Applaus, Applaus für alle!

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