Inter in der Champions League:Und nun Teil drei der großen Saga

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Ein Schlüsselspieler auf dem Weg ins Halbfinale: Inters Mittelfeldmann Nicolò Barella, hier in fester Umklammerung seines Teamkollegen Edin Dzeko. (Foto: Gribaudi/Imago)

Nach dem Einzug beider Mailänder Klubs ins Halbfinale steigt in der Metropole in Norditalien die Fieberkurve. Das anstehende Euroderby zwischen Milan und Inter weckt Erinnerungen an alte Zeiten - und an Anfangserfolge eines bekannten Trainers.

Von Thomas Hürner

Mailand ist eine stolze Stadt, doch der Ruf im Rest Italiens ist nicht der beste. Blasiert seien sie dort, heißt es, die Mailänder verfügten nicht über das Gespür, wann Selbstbewusstsein die gefährliche Grenze zur Arroganz überschreite. Oder, noch schlimmer: Es ist ihnen schlicht egal. Die Mailänder selbst wiederum verweisen genüsslich darauf, dass sich innerhalb der eigenen Stadtgrenzen alles versammle, was das Land voranbringe, die Börse, die Mode, die wirtschaftliche und intellektuelle Elite.

Zurückhaltung, nun ja, das ist ihre Sache nicht. Nur im Fußball hinkte die lombardische Metropole eine ganze Weile hinterher. Die AC Milan und die Internazionale sind zwei der strahlendsten Glanzlichter der Stadt, mehrmalige Meister und Europapokalsieger, einst das liebste Spielzeug jener Elite, die das Land lenkt - doch mehr als eine Dekade lang waren beide international ein verblasstes Abbild früherer Glorie, fast schon ein Grund für seltenen Mailänder Kleinmut.

Aber nun der Mittwochabend, der Vollzug einer spätösterlichen Wiederauferstehung: Euroderby!

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So nennen sie das in Italien, wenn sich Milan und Inter in der K.-o.-Runde der europäischen Königsklasse gegenüberstehen. Die Euroderbys in den Jahren 2003 und 2005 gelten den Anhängern beider Lager als Großereignisse. Und die Fieberkurve in der Stadt, so viel steht fest, wird sich in den kommenden Wochen gen Anschlag bewegen: Teil drei der Saga steht auf dem Programm, die Losfee hatte es ja von vornherein gut gemeint mit den Klubs. Nach Milan, das am Dienstag die SSC Napoli im italienischen Duell niedergerungen hatte, ist nun auch die Stadtrivalin ins Semifinale der Champions League eingezogen. Inter genügte ein 3:3 gegen Benfica, um den vorbestimmten Platz im Turnierbaum einzunehmen - so sieht das jedenfalls das schwarz-blaue Volk der Interisti, das auf Rache sinnt.

Das Euroderby 2003 gilt als Geburtsstunde der Erfolge eines gewissen Carlo Ancelotti

In den vorigen beiden Euroderbys hatte jeweils Milan die Oberhand behalten, 2005 im Viertelfinale, 2003 ebenfalls im Halbfinale. Insbesondere die letztgenannte Begegnung gilt den Inter-Tifosi bis heute als bitterböser Scherz des Schicksals. 0:0 und 1:1 lauteten die Ergebnisse, zwei Unentschieden also, die von der bloßen Ansetzung auf dem Papier in eine Niederlage umgewandelt wurden. Inter flog aus dem Turnier, wegen der damals noch gültigen Auswärtstorregel, obwohl beide Partien wie immer in der gemeinsamen Heimstätte stattgefunden hatten, dem kolossalen San-Siro-Stadion. Milan, damals trainiert von Carlo Ancelotti, feierte zwei Wochen später im rot-schwarzen Konfettiregen den Gewinn des Champions-League-Pokals. Ein Trauma für den Rivalen, bis heute, denn die Frage sei gestattet: Was wäre gewesen, wenn das nominelle Heimrecht damals andersrum gegolten hätte?

Damals noch umgeben von italienischen Größen: Trainer Carlo Ancelotti 2003 neben Pippo Inzaghi und Paolo Maldini. (Foto: Imago)

Der Calcio wird nun mal auch im Konjunktiv gespielt, in der Zeitform des Nichtfaktischen. Und jetzt wird's interessant: Ancelotti, soeben mit Real Madrid mal wieder ins Halbfinale vorgestoßen, inzwischen der nimmersatte Titelhamster in Europas Wettbewerben - na, wie wäre der weitere Karriereweg bei ihm wohl verlaufen? Siegen oder gehen, so lautet die wichtigste Maxime im italienischen Fußball, und damals, 2003, war es richtig eng gewesen für Ancelotti. Der Ligaalltag in der Serie A verlief schleppend, sein Posten hatte ernsthaft zur Disposition gestanden. Nur die beiden Remis gegen Inter retteten ihm den Job und damit seinen ersten europäischen Triumph als Coach. Der Rest, nun ja, der ist Geschichte.

Inter-Coach Inzaghi muss seit Wochen um seinen Job bangen

Die Methode Ancelotti, damit ließe sich wohl auch am besten beschreiben, wie es aktuell um Inters Coach Simone Inzaghi steht. Oder besser: Warum er überhaupt noch im Amt ist. In der Liga legt sich regelmäßig Lethargie über sein Team, elf Niederlagen hat Inter da schon eingesteckt, die meisten davon gegen wenig glamouröse Vereine wie La Spezia oder Monza. Eine gruselige Bilanz, zumal ein Verpassen der nächsten Königsklassen-Saison ein finanzielles Debakel für den Klub bedeuten würde. Die Gazzetta dello Sport aus Mailand spekuliert seit Wochen darüber, wie viele Partien Inzaghi wohl noch bleibe, nur um die Bewährungsfrist noch mal ein Stückchen nach hinten zu verschieben. Der Zusammenhang ist klar: Vor eine mögliche Entlassung hat sich halt immer noch eine Partie in Pokalwettbewerben geschoben, in der Champions League oder der nationalen Coppa Italia. Und da liefert Inzaghi, 47, nun mal zuverlässig.

Inter ist in dieser Saison ein Team der zwei Gesichter, ein bislang ungelöstes Rätsel. Am Mittwoch jedenfalls, im Spiel gegen das von Roger Schmidt trainierte Benfica, präsentierte sich die Inzaghi-Elf, wie das zu erwarten stand: solide, souverän, stets mit der totalen Spielkontrolle. Kein Wunder, jemand hatte schließlich das Flutlicht angeknipst. Und man sollte sich da vom Ergebnis nicht täuschen lassen: Zwei der drei Gegentore fing sich die Heimelf, als alles schon klar war, in der Schlussphase zeigte Inter noch mal kurz sein lethargisches Liga-Gesicht.

Davon abgesehen, so lasen sich auch die Rezensionen in den Gazetten, war insbesondere unter den Schlüsselakteuren im Team der Fokus wieder auf Europapokalschärfe gestellt. Nicolò Barella etwa, Europameister 2021 mit Italien, die nur 1,72 Meter große Säule in Inters Mittelfeld: Wenn er gut ist, dann ist die gesamte Mannschaft gut. Barella ist der aktuell wohl kompletteste Fußballer südlich der Alpen, zuletzt hatte er aber ein wenig überspielt gewirkt, er ist seit Jahren im Dauereinsatz ohne echte Pausen. Am Mittwoch wackelte er einen Gegenspieler aus und jagte den Ball in den Torwinkel, zur wichtigen 1:0-Führung Inters. Bereits beim 2:0-Hinspielsieg hatte er für die frühe Erlösung gesorgt.

Inters Sturm konnte gegen Benfica eine lange Torflaute beenden - zumindest teilweise

Auf Barella ist in solchen Spielen Verlass, das wissen alle. Mit Sorge und bisweilen auch mit Sarkasmus waren hingegen zuletzt die Leistungskurven der Stürmer bewertet worden. Ganz vorne hat Inter eigentlich eine Menge Qualität, dennoch durchlitten die Akteure eine derart unheimliche Torflaute, dass in italienischen Medien bereits spöttische Rechenspiele angestellt wurden: Ermittelt wurde etwa die Summe der Tage, seitdem Lautaro Martínez, Joaquín Correa, Romelu Lukaku und Edin Dzeko zuletzt aus dem Spiel heraus getroffen haben. Heraus kam eine mittelhohe dreistellige Zahl.

Martínez, vor Kurzem Weltmeister mit Argentinien, und Correa, der ohne Verletzung ebenfalls zur Mondiale gefahren wäre, haben gegen Benfica nun endlich wieder getroffen. Insbesondere der schöne Zirkelschuss von Correa dürfte sich auch für den Coach wie eine Genugtuung angefühlt haben: Inzaghi wollte ihn unbedingt mitnehmen, als er 2021 von Lazio Rom zu Inter ging, gekostet hat der dauerverletzte Correa die stattliche Ablöse von 30 Millionen Euro - fahrlässig verpulvertes Geld, so lautete zuletzt das harsche Urteil über diesen Transfer.

Apropos Genugtuung: "Ich weiß, woher die Kritik kommt, und ich weiß auch, was die Leute damit bezwecken wollen", sagte Inzaghi, es war eine Spitze im Moment des Triumphs. An wen sie genau gerichtet war, verriet er nicht, doch ein Verdacht liegt nahe: Massimo Moratti, Ölmagnat und einstiger Inter-Präsident, erzählte unlängst, dass er den Coach längst gefeuert hätte, wenn er noch in der Verantwortung stünde. Gewinnen oder fliegen, kaum einer befolgte diese Maxime konsequenter als Moratti. Seine Lektion lernte er durchs Euroderby 2003: Milan wurde Mitte der Nullerjahre zur dominanten Kraft in Europa, unter Ancelotti, dem beinahe vor die Tür gesetzten Welttrainer.

Nun wird also ein Mailänder Klub im Finale stehen, auf dem Papier als Außenseiter entweder gegen Real oder Manchester City. Kleinmachen, so viel lässt sich jetzt schon sagen, werden sich aber weder Inter noch Milan. Sie wissen ja: Mailand ist die einzige Stadt, aus der zwei Champions-League-Siegerklubs hervorgegangen sind.

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