Leichtathletik-Weltmeisterschaften:Wikinger im Feuersturm

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Wikingerbeute: Karsten Warholm bejubelt seine dritte WM-Goldmedaille über 400 Meter Hürden. (Foto: Vegard Grott/Bildbyran/Imago)

Die norwegischen Ausnahmesportler Karsten Warholm und Jakob Ingebrigtsen polarisieren bei der WM in Budapest. Während der eine über 400 Meter Hürden gewinnt, unterliegt der andere trotz großer Ankündigungen über 1500 Meter.

Von Johannes Knuth, Budapest

Jakob Ingebrigtsens Körper ist besprenkelt mit Tattoos, einem Diamanten auf dem Oberschenkel etwa, oder einem Erzengel, der Satan bezwingt. Hinter jedem Motiv stehe eine Geschichte, hat er neulich dem Schweizer Tagesanzeiger erzählt - Achilles, den Held des Trojanischen Krieges, habe er gewählt, weil ihm früher, Obacht, oft die Achillessehne schmerzte -, er wolle damit jedenfalls betonen, dass er heraussteche auf der Mittelstrecke, auf der sich sonst niemand eine solche Körperbemalung gönne: "Weil ich der Einzige bin, der gewinnen will. Wenn ich mir meine Konkurrenten vorstelle, ist da ein Feuer, mit dem ich alle bezwingen werde. Dieses Feuer", fand Ingebrigtsen, "sehe ich bei ihnen nicht."

Als der 400-Meter-Hürdenläufer Karsten Warholm vor den Weltmeisterschaften in Budapest über die Gepflogenheiten in seiner Disziplin sprach, malte er ein Bild des kollegialen Respekts. Er würde niemals "ein toxisches oder feindliches Klima" aufziehen lassen, nur weil dies das Publikum erregen würde. Solch eine Rolle könnte er gar nicht glaubhaft spielen, andererseits, schob er hinterher, als wolle er sichergehen: "Wenn jemand als Erster das Schwert zieht, werde ich meinen Kämpferinstinkt schon finden."

Ingebrigtsen. Warholm. Zwei Großmeister aus Norwegen, die dem Erfolg in der Leichtathletik kaum unterschiedlicher hinterherjagen könnten. Am fünften Wettkampftag in Budapest waren sie wieder die Hauptdarsteller: Der eine gewann sein drittes WM-Gold nach 2017 und 2019, diesmal in 46,89 Sekunden. Der andere verlor über 1500 Meter den sicher geglaubten Triumph an den Briten Josh Kerr. Und auch wenn die Stimmung anschließend kaum unterschiedlicher temperiert sein konnte, schwebte ein Leitmotiv über beiden, das Warholm so beschrieb: "Erst jubeln alle über deine Erfolge, dann brauchen sie eine Katastrophengeschichte, um dich zu stürzen."

Schon wieder ein Brite! Jakob Ingebrigtsen (rechts) verliert über 1500 Meter die sicher geglaubte Goldmedaille an Josh Kerr. (Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

Ingebrigtsen war wild entschlossen nach Budapest gereist, die Enttäuschung über das 1500-Meter-Rennen vor einem Jahr bei den Weltmeisterschaften in Eugene schien ihm noch immer in den Kleidern zu stecken. Damals hatte er dem Briten Jake Wightman 200 Meter vor dem Ziel die Spitze überlassen; einem hervorragenden Finisher, der Ingebrigtsen dann nicht mehr vorbeiließ. Ein "taktischer Fehler", klagte Ingebrigtsen, frei übersetzt: Er allein, der Olympiasieger und Topfavorit, habe den Titel verspielt. Vor Budapest verlor er im Freien nicht ein 1500-Meter-Rennen, drückte den Europarekord auf 3:27,14 Minuten, sogar Hicham El Guerroujs unwirklicher Weltrekord (3:26,00) rückte plötzlich in Reichweite. Was konnte schon schiefgehen?

Ingebrigtsen wuchs vor TV-Kameras auf, Warholm feierte als 18-Jähriger mit Freunden

Warholm war in Eugene ebenfalls enttäuscht von der Bahn gestapft. Damals hatte er versucht, sein furchterregendes Tempo trotz einer frisch kurierten Verletzung ins Ziel zu retten. Es klappte nicht, als Siebter, und so brach Warholm, trotz des EM-Triumphs in München, mit Zweifeln ins neue Jahr auf. Er müsse sich sein Selbstbewusstsein stets neu erarbeiten, sagte er in Budapest - was vielleicht auch daran liegt, dass er nicht seit dem Alter von zehn Jahren mit seinen Brüdern vor TV-Kameras zu einem Hochleistungsathleten herangezüchtet wurde wie Jakob Ingebrigtsen. Warholm feierte mit 18 noch Partys mit Freunden, da war er schon Jugendweltmeister im Mehrkampf. Aber er holte schnell auf. Und in Budapest war er wieder bereit.

Ingebrigtsen brachte dort im Halbfinale erstmals den Volkszorn gegen sich auf. Er schwamm lange hinten im Feld mit - war er etwa angeschlagen, wie sie zuvor hier und da geraunt hatten? War alles ein Spiel? Ein unfreundlicher Gruß an Vater Gertjan, mit dem Jakob vor einem Jahr gebrochen hatte, und der nun seinen Landsmann Narve Nordas trainiert? Auf der Zielgeraden winkte er dann plötzlich ins Publikum und sprintete an allen vorbei. Das wirkte ein bisschen arg aufreizend, es war auch riskant - ein Sturz im Feld kurz davor, und Ingebrigtsens Finalteilnahme wäre schwer gefährdet gewesen. Ach, sagte er später, er habe doch nur ein bisschen Kräfte sparen wollen, und das Publikum, das sei ihm etwas schläfrig vorgekommen.

Jakob Ingebrigtsen bei den European Championships
:Der Europameister, der seinen Vater feuerte

Der Norweger Jakob Ingebrigtsen dominiert die Konkurrenz, wird aber vor allem nach einem Familienstreit befragt: Sein als aufbrausend geltender Vater ist nicht mehr sein Trainer, aber trotzdem in München dabei.

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Warholm rückte nach seinem Halbfinale auch rasch in den Fokus. Er hatte sein linkes Bein an einer Hürde vorbeigeführt statt darüber, so hatte es auf einem TV-Bild jedenfalls den Anschein. Als er nach seinem Sieg darauf angesprochen wurde, lächelte er. "Wenn sie dich nicht schlagen können, versuchen sie halt, dich zu disqualifizieren", sagte er dann. Als er das kompromittierende Bild gesehen habe, sei ihm auch erst mulmig geworden, aber das sei nun mal nur eine Einstellung gewesen. Als die Jury und alle Landesverbände der Konkurrenten weiteres Material gesichtet hätten, seien die Einwände verpufft. "Man muss schon alle Perspektiven beachten", sagte Warholm in einem Ton, als wolle er die Episode schon auch als Gesellschaftskritik verstanden wissen. Sein Trainer habe ihm kürzlich erst gesagt: "Tut mir leid, Karsten, dass du so früh in deinem Leben lernen musst, in welch zynischer Welt wir leben."

Im Endlauf wirkte er zunächst nicht ganz so dominant, allerdings habe er das Rennen so flott wie immer begonnen, sagte er später - es waren die anderen, die sich diesmal schlicht übernahmen. So klärte Warholm die Angelegenheit eben im Endspurt, vor Kyron McMaster (47,34) und Rai Benjamin (47,56). Später kleidete der Norweger seinen Stolz in respektvolle Worte: "Ich würde sagen, dass der Titel wieder dort ist, wo er hingehört." Und räumte ein, dass sieben andere Finalteilnehmer - darunter Joshua Abuaku von Eintracht Frankfurt als Achter in 48,53 Sekunden - "das wohl ein bisschen anders sehen".

In Eugene habe er sich selbst geschlagen, sagt Ingebrigtsen, nun habe der Hals gekratzt

Und Ingebrigtsen? Der ließ im Spurt diesmal niemanden auf der Innenbahn vorbeischlüpfen. Dafür kochte ihn Josh Kerr, der Olympiadritte von Tokio, mit einem durchaus feurigen Spurt auf der Außenbahn ab. Hut ab, sagte Ingebrigtsen später, ehe er sein Lob umgehend verwässerte. Er habe vor ein paar Tagen ein Kratzen im Hals verspürt, am Mittwoch habe er gewiss nicht über volle Schubkraft verfügt. Er rettete gerade noch Silber, vor Nordas, dem Schützling des Papas.

Wenn man Warholm am Mittwochabend in Budapest richtig verstand, ist es auch dieser gewaltige Ehrgeiz von Ingebrigtsen, der viele Kollegen im norwegischen Sport zum Nachahmen animiere. Aber wieso diese Härte gegen sich und die Gegner? Er habe sich nun mal immer behaupten müssen gegen seine Brüder, hat Ingebrigtsen oft erzählt; er habe immer der Beste sein wollen, und um diesen Status im Spitzensport zu festigen, brauche es nun mal Weltrekorde und Goldmedaillen in Hülle und Fülle. Und natürlich komme das manchmal großkotzig rüber in Norwegens egalitärer Gesellschaft, aber hey, das sei doch kein Problem - solange er seine Leistung liefere.

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