Hamburg in der 2. Liga:Schon wieder gegen einen Aufsteiger

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Ratlos an der Bremer Brücke: Der HSV scheitert mal wieder an sich selbst. (Foto: Hirnschal/Imago)

Der HSV verliert 1:2 in Osnabrück und könnte wieder einmal sein Saisonziel verpassen. Trainer Walter trägt nicht zur Aufklärung der rätselhaften Formschwäche seines Teams bei.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Vielleicht muss zuerst die Definition des Begriffs "Entwicklung" dargelegt werden. Entwicklung, so lautet eine gängige Definition, bezeichne "den Vorgang des Wandels von der Entstehung eines Phänomens über verschiedene Stadien der Veränderung oder auch des Verfalls bis zum gegenwärtigen oder einem vorher bestimmten Zustand."

Zugegeben, das klingt schrecklich kompliziert. Ist aber eigentlich ganz simpel, wenn man es auf den Fußball überträgt: Der "gegenwärtige Zustand" kann das jüngst absolvierte Spiel oder die Tabellenposition sein, der "vorher bestimmte Zustand" das festgelegte Saisonziel - und während der Saison treten Ereignisse ein, die dieses Ziel wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.

Beim Hamburger SV reden sie nun schon seit mehr als zwei Jahren von "Entwicklung", seit dem Tag, an dem Tim Walter als Trainer präsentiert wurde. Eine clevere Kommunikationsstrategie, an der sich alle im Klub rege beteiligen, vom Security-Personal im Volksparkstadion bis zum Sportvorstand Jonas Boldt. Entwicklung gilt im Fußball schließlich als löbliche Angelegenheit. Wer könnte da schon etwas dagegen einzuwenden haben?

Die Hamburger ließen die Niederlage in Osnabrück über sich ergehen

Blöd nur, dass dieses eine Wörtchen ebenfalls in der Begriffsdefinition (siehe oben) auftaucht: Verfall. Eine Entwicklung, diese semantische Unterscheidung haben sie beim HSV nie gemacht, kann auch einen negativen Verlauf nehmen, der das Saisonziel torpediert. Der im Klub stets propagierte "Weg der Entwicklung" hat schon in den Vorjahren nicht zum Aufstieg geführt. Am Freitagabend präsentierte sich der HSV nun erneut in einer Verfassung, in der bedenkliche Verfallserscheinungen zu erkennen waren: 1:2 verloren die Hamburger beim Zweitliga-Aufsteiger Osnabrück.

Dasselbe Ergebnis wie in der Vorwoche in Elversberg, einem weiteren Aufsteiger, aber mit einem zentralen Unterschied während der gesamten Spieldauer: Die Hamburger ließen es diesmal einfach über sich ergehen. Kein Aufbäumen in der Schlussphase, keine Ideen, keine wenigstens verspätete Annahme des Kampfs. Abgesehen vom zwischenzeitlichen Führungstreffer durch Stürmer Robert Glatzel konnte sich die Walter-Elf nicht eine nennenswerte Torchance herausspielen - und dieser Treffer, das sei dazu gesagt, fiel eindeutig in die Kategorie "Einzelleistung". Das Produkt einer intakten Fußballmannschaft war er nicht.

"Was in Osnabrück passiert ist, ist nicht zu erklären", kritisierte HSV-Torwart Daniel Heuer Fernandes, der schaute, als hätte er gerade das Begräbnis eines geliebten Haustiers und kein Zweitliga-Spiel hinter sich: "Wir verlieren jedes Kopfballduell, jeden zweiten Ball, sind bei eigenem Ballbesitz zu ungenau. In allen Inhalten, die uns ausmachen, war der Gegner präsenter." Damit hatte Heuer Fernandes konkrete Versäumnisse seines Teams benannt, die aus seiner Sicht maßgebend für die Nicht-Leistung waren - eine seriöse Art der Öffentlichkeitsarbeit, zu der sein Trainer Tim Walter mal wieder nicht bereit war. "Bodenlos schlecht" hätten sich die Hamburger präsentiert, sagte Walter, dasselbe gelte somit auch für ihn selbst. Mehr Analysetiefe gab's nicht. Stattdessen pampte Walter die Fernsehreporter an, als diese nachhakten: "Wir waren schlecht, was wollt ihr hören? Mehr gibt's da nicht zu sagen."

Walter ist ein Meister der Emotion - doch Siege gegen die Kleinen garantiert das nicht

Der Trainer gibt sich nach Niederlagen häufig etwas schmallippig, doch bei den HSV-Anhängern kam er lange gut an mit seiner robusten Art. Verbale Attacken kontert Walter stets mit Gegenangriffen, sein Offensivfußball sorgt für mitunter spektakuläre Spiele, und die Hamburger Mannschaft bekam - trotz zweier verpasster Aufstiege - ein neues Selbstbewusstsein eingehaucht. Die Sache ist nur: Emotion nutzt sich ab, wenn der Fußball keine neuen Impulse setzt. Dabei hatte es zu Saisonbeginn durchaus den Anschein, als würde Walter Abstriche von seinem fußballerischen Absolutheitsanspruch machen und Anpassungen vornehmen, die die Stabilität erhöhten.

In Hamburg mehren sich nun aber die Kritiker, die genug davon haben, dass der Traditionsklub an den immergleichen Dingen scheitert: eine unzulängliche Balance zwischen Offensive und Defensive, der vom Trainer praktizierte Hochrisikofußball, unerklärliche (und von Walter unzureichend erklärte) Aussetzer gegen die sogenannten Kleinen. In der Vorsaison hat der HSV keinen von zwölf möglichen Punkten gegen Aufsteiger geholt, eine fatale Bilanz, für die Walter in der Hamburger Fehleranalyse im Sommer Besserung gelobte. Die aktuelle Ausbeute: null von sechs Zählern.

Beim HSV wissen sie, dass rauschende Siege wie jene gegen die Ligagrößen FC Schalke 04 (5:3) oder Hertha BSC (3:0) nur geringen Wert haben, wenn das Tagwerk gegen den Unterbau der zweiten Liga misslingt. Sie wissen auch, dass sie dem Trainer einen für Zweitliga-Verhältnisse funkelnden Kader bereitgestellt haben, der in der Spitze und in der Breite über enorme Qualität verfügt und entsprechend Geld kostet. Und keiner weiß daher besser als der Sportvorstand Boldt: Beim HSV herrschen keineswegs die Rahmenbedingungen eines "normalen Zweitligisten", obwohl Walter das jüngst behauptet hat.

Eine dazu passende Entwicklung müsste deshalb langsam mal herausspringen. Alles andere wäre eine Fehlentwicklung - und von dort ist's nicht mehr weit zu Verfallserscheinungen eines Klubs, der mal wieder sein Saisonziel verpasst.

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