HSV in der 2. Liga:Mit Walterball gegen gefährliche Gedanken

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Trainer Tim Walter hat den HSV zu einer Ballbesitz-Elf geformt - das klappt meist sehr gut. Aber reicht es auch für den Aufstieg? (Foto: Axel Heimken/dpa)

Die Hamburger zeigen in dieser Saison viele Gesichter, aber im Nordderby gegen Hannover klappt fast alles: Beim 6:1 wird klar, dass sich diesmal im Aufstiegsrennen einiges anders anfühlt als in den vergangenen Jahren.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Manche halten Hamburg im Frühjahr für das Paradies auf Erden. Nach etlichen Monaten verziehen sich endlich die Nebelschwaden aus der Stadt, die Alster glitzert unter den ersten Sonnenstrahlen des Jahres, und Kinder lernen das Segeln auf Booten, die passenderweise "Optimisten" heißen. Eine Umgebung wie bei einer kollektiven Achtsamkeitsmeditation.

Ja, das Leben könnte zu dieser Jahreszeit ganz wunderbar sein in der Hansestadt - wären da nicht jene drei Buchstaben, die regelmäßig dafür sorgen, dass das Panikbarometer der Bewohner in die Höhe schießt: HSV. Sobald das Frühjahr anbricht, spielt der Traditionsklub nicht nur gegen andere Mannschaften, sondern vor allem gegen sich selbst. Wie sich an der mittlerweile fünfjährigen Zweitliga-Zugehörigkeit ablesen lässt, ist dieses Duell bislang nie gut ausgegangen.

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Am Samstag ließ sich der HSV jedenfalls nicht von den bösen Geistern der jüngeren Vergangenheit vereinnahmen. Die Mannschaft von Trainer Tim Walter gewann 6:1 im kleinen Nordderby gegen Hannover 96 - und damit, der Logik des Versagens folgend, auch gegen die gefährlichen Gedanken, die sich andernfalls in den Spielerköpfen festsetzen könnten. Den ganzen Tag hing übrigens eine dicke Nebeldecke über Hamburg.

Der HSV hat zuletzt allerlei Arten von Spielen geliefert - nur seriöse Pflichtsiege waren selten

"Das war das Gesicht, das man von uns sehen möchte", sagte HSV-Torwart Daniel Heuer Fernandes und schaute wie jemand, der vor seinem eigenen Spiegelbild ganz bestimmt nicht erschrocken wäre. Im Subtext hat er damit aber auch eine Nachricht transportiert, die definitiv nicht zur Eilmeldung taugte: Die Hamburger haben in dieser Saison so viele Gesichter gezeigt, dass es sich für Schauspielschüler lohnen würde, die einzelnen Spiele zu studieren. Mimik und Ausdruck, Körpersprache und Präsenz - kaum ein anderer deutscher Profiklub hatte in diesen Disziplinen derartige Ausschläge zu verzeichnen. Von elektrisierenden Auftritten, unerklärlichen Blackouts bis zu sagenhaften Comebacks war alles dabei. Nur unaufgeregte Pflichtsiege waren selten.

Das Frühjahr 2023 fühlt sich in Hamburg dennoch anders an als die Frühjahre 2022 bis 2019, in denen der einst große HSV jene Schwächeanfälle durchlebte, die am Saisonende zumeist deutlich kleinere Klubs für sich nutzen konnten. Walter hat es bereits in der Vorsaison geschafft, das abzustellen, unter ihm ist der HSV kein Fähnchen-im-Wind-Team mehr, das sich vom geringsten Gegendruck umpusten lässt. "Wir schauen nur auf uns", wiederholte der Coach auch nach dem Sieg gegen Hannover. Der Satz ist so etwas wie der Dauerbrenner auf seiner Classic-Hits-Platte.

Jedoch: Wenn die Psychologie keinen Anlass zur Sorge gibt und bislang auch nachweislich keine bösen Aufstiegsgeister über dem Hamburger Volkspark gesichtet wurden, dann wird beim HSV in den nächsten Wochen eine weitaus grundsätzlichere, weil rein fußballfachliche Frage verhandelt: Ist der aufregende Tim-Walter-Fußball nun aufstiegstauglich oder nicht?

Eine seriöse Prognose kann es allein schon deshalb nicht geben, weil es am passenden Vergleichsmaterial fehlt. So wie Walter spielt nun mal keiner. Der mehr als nur selbstbewusste Coach jedenfalls findet, dass der sogenannte "Walterball" allein schon deshalb erfolgversprechend ist, weil er ihn selbst erfunden hat. Seine Idee ist speziell, die Außenverteidiger rücken im Spielaufbau nach innen, und dann sollen die Hamburger passen, passen, passen. Für Walter ist sein radikaler Ballbesitzfußball nicht verhandelbar - aufgestiegen ist er damit bislang weder an seinen vorigen Stationen noch in der vergangenen Saison mit dem HSV.

"Wir mussten kurze Zittermomente überbrücken", sagte der HSV-Coach Tim Walter

Der dominante Stil hat aber seine bauartbedingten Tücken, weil die Abwehr in unschöner Regelmäßigkeit in Unterzahlsituationen gerät. Kleinste Fehler können bereits einen riesengroßen Schaden anrichten. Auch am Samstag hätte es womöglich ein bisschen anders laufen können, wenn die Hannoveraner mehr aus den Möglichkeiten gemacht hätten, die sich boten, als das Spiel noch eng war. Etwa vor der 1:0-Führung durch den zuletzt verunsicherten Hamburger Mittelfeldmann Sonny Kittel (34. Minute) oder nach dem 2:1-Anschlusstreffer des 96ers Derrick Köhn zu Beginn der zweiten Halbzeit. Wie zuletzt einigen Gegnern war es den 96ern in diesen Phasen gelungen, den komplexen Walterball mit einfachen Mitteln zu bekämpfen. "Wir mussten kurze Zittermomente überbrücken", sagte der HSV-Coach, danach habe er seine Mannschaft "total entspannt, gelöst und mutig" erlebt.

In der ersten halben Stunde waren sogar erstmals seit langer Zeit Pfiffe im Volkspark zu vernehmen, von einzelnen Fans, die offenbar genug davon hatten, wie ihre Mannschaft den gegnerischen Strafraum belagerte, ohne sich in diesen einzufinden oder das Tempo zu verschärfen. Sie verstummten aber schnell wieder hinter der Wucht der 57 000 Zuschauer, die den Volkspark seit Monaten zum bestbesuchten Zweitliga-Stadion Europas machen. Nach dem 3:1-Treffer kombinierte sich der HSV gegen teilweise desolate 96er einen Kantersieg herbei, außer Kittel trafen die Mittelfeldspieler Laszlo Benes (doppelt) und Ludovit Reis sowie die Angreifer Robert Glatzel und Ransford-Yeboah Königsdörffer - allesamt Akteure, deren Form zuletzt nicht zum potenziellen Leistungsniveau passte.

"Wir haben uns heute für den Aufwand belohnt", konnte Walter nun loben. Zuletzt hatte er bei seinem Team vor allem die Diskrepanz zwischen Aufwand und Ertrag kritisiert. Hanseatischer Optimismus ist daher nur in dezenten Dosen geboten. Der Zweitliga-Tabellenführer Darmstadt 98 erledigt seine Aufgaben mit einer geradezu erschreckenden Souveränität, während sich von hinten allmählich der Stadtrivale FC St. Pauli heranpirscht, der am Samstag seine opulente Siegesserie beim 1:0-Erfolg gegen den Aufstiegsanwärter 1. FC Heidenheim ausbauen konnte: Die Paulianer haben seit dem Winter alle zehn Spiele gewonnen, der Rückstand auf den HSV beträgt sechs Punkte - und in zwei Wochen ist Hamburg-Derby. Mit düsteren Szenarien wollten sich die HSV-Fans am Samstag nicht beschäftigen. Sie besangen nach dem Schlusspfiff minutenlang die Schönheit, die das Leben für sie bereithalte, und sie ignorierten dabei geflissentlich die Tatsache, dass das Frühjahr noch nicht vorbei ist.

Das Frühjahr geht laut Kalender bis zum Ende der Saison. Tim Walter macht jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre das ein Grund zur Beunruhigung. Er freut sich drauf.

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