Trainer Rapp und Holstein Kiel:Störche im Anflug auf die Bundesliga

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Jubel, Trubel, Herbstmeister: Nach Abschluss der Hinrunde standen Trainer Marcel Rapp und seine Kieler plötzlich auf Platz eins der zweiten Liga. (Foto: Laci Perenyi/Laci Perenyi / imago)

Nahezu unbemerkt hat der Trainer Marcel Rapp den Außenseiter Holstein Kiel an die Spitze der zweiten Liga geführt - mit einem Singsang, der ein bisschen nach Christian Streich klingt.

Von Thomas Hürner

Wenn jemand anderes als Marcel Rapp diesen Satz gesagt hätte, dann wäre ganz schön was los gewesen. Ein Trainer eines sogenannten Traditionsklubs hätte es unmittelbar nach Beendigung des Satzes mit wütenden Fanprotesten zu tun bekommen. Ein Trainer eines sogenannten Werksklubs wäre ins Büro des wütenden Konzernvorstands zitiert worden. Rapp, 44, ist aber Trainer von Holstein Kiel. Er durfte das sagen. Und der Satz geht so: Wenn man unbeteiligte Personen danach fragte, behauptete Rapp neulich, dann würde ihnen "kein einziger Grund einfallen, warum wir in der ersten Liga spielen sollten".

Rapp sprach's, und es passierte: nichts. Es wurde keine Krisensitzung aus der Kieler Geschäftsstelle übermittelt, der Boulevard schickte keine Krisenreporter an den Ort des Geschehens. Auch die Kieler Spieler ließen sich von dem Satz nicht irritieren. Kurz darauf schossen sie Hannover 96 mit 3:0 aus dem schnuckeligen Holstein-Stadion, wodurch der inoffizielle Titel "Zweitliga-Hinrundenmeister" eingeheimst wurde. Ein aus Kieler Sicht mal wieder tolles Spiel sowie eine sehenswerte Zwischenbilanz. Für Rapp allerdings noch lange kein Grund, sich öffentlich von seinem Satz zu distanzieren.

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Und plötzlich ist wieder nur noch ein Innenverteidiger da: Matthijs de Ligt setzt im Trainingslager des FC Bayern verletzt aus, Eric Dier reist zur Geburt seines Kindes - und könnte nun doch schnell ein Kandidat für die Startelf werden.

Von Sebastian Fischer

Der Coach sitzt auf einer Terrasse im spanischen Oliva Nova, vor sich ein Laptop mit eingeschalteter Videofunktion, hinter ihm strahlt die Sonne am unverschämt blauen Himmel. Dort bereitet sich Holstein Mitte Januar auf die Rückrunde vor, zum Auftakt geht es an diesem Freitag gegen Eintracht Braunschweig (Anpfiff 18.30 Uhr). Rapp, geboren in Pforzheim, spricht einen charmanten badischen Singsang, der klingt, als habe sich Christian Streich in die Tonspur gehackt. Abgesehen von seinem Augenmerk auf "Leischdung" und "Leideschaft" hat er mit seinem Trainerkollegen aus Freiburg noch etwas gemein: Rapp lässt nahezu keine Gelegenheit aus, um glaubwürdige Plädoyers für Bodenständigkeit zu halten. Und genauso konsequent erinnert er an die Nischenzugehörigkeit seines Klubs.

Selbst in Kiel ist Holstein nur der zweitwichtigste Sportklub

Rapp hat ja wahrscheinlich recht: Es wurden zwar noch keine repräsentativen Meinungsbilder erhoben, aber es erscheint plausibel, dass sich das gemeine Fußballvolk lieber Edelmarken wie den Hamburger SV oder Schalke 04 in die erste Bundesliga zurückwünschen würde, als dort ein Freitagabend-Spiel zwischen Holstein und Heidenheim zu riskieren. Ein Kieler Aufstieg würde die Republik eher nicht in Ekstase versetzen, womöglich würden viele ihn nicht einmal bemerken, bevor der Nordklub wirklich im Spielplan der Erstliga-Saison 2024/25 auftauchen sollte. Sogar innerhalb Kiels ist Holstein gerade mal der zweitwichtigste Sportverein - hinter den Handballern des THW Kiel, dem ganzen Stolz der Küstenstädter.

Wer das ungeschriebene Naturgesetz der zweiten Liga kennt, weiß aber: Genau deswegen könnte es klappen. Am Ende verschafft sich mindestens einer der "Kleinen" Zutritt in die Erstklassigkeit. Es geschieht heimlich, still und leise. Aber dann sind sie halt drin.

Rapp distanziert sich noch vom konkreten Vorhaben, ins Oberhaus einzuziehen, dafür sei die Saison zu lang, hart und unwägbar. Mit der Zweitligahistorie an Außenseiter-Erfolgen ist er aber durchaus vertraut. Und mit den dazugehörigen Standortvorteilen auch: "Hier dreht keiner durch, wenn einer mal drei Tore schießt", sagt Rapp. "Aber genauso bleiben alle entspannt, wenn einer zwei Wochen nicht so gute Leistungen bringt." Das bildet sich auch am Trainer Rapp ab, der es als Spieler auf gerade mal neun Zweitligaspiele für Karlsruhe und Oberhausen brachte. Auch er selbst kommt eher aus der Nische - und hat sich dort nach einem Leitbild sozialisiert, wie sich das Reformkommissionen für den deutschen Fußball besser nicht wünschen könnten.

Rapp ist seit Oktober 2021 Trainer von Holstein, davor arbeitete er fast eine Dekade lang in der Jugend der TSG Hoffenheim, wo er sein gesamtes Schaffen an zwei Stichworten ausrichtete: Geduld und Inhalte. Ehemalige Weggefährten versichern, dass sein Kernanliegen damals nicht der nächste Pflichtspielsieg, sondern das kontinuierliche Bessermachen seiner Nachwuchskicker gewesen sei - eine in der Theorie gewünschte Herangehensweise, die es nur selten in die Praxis schafft. Im Trainer Rapp materialisiert sich das häufig gegebene und nur selten eingelöste Versprechen von "Entwicklung". Deshalb wollte Holstein ihn haben. Und deshalb war Rapp sicher, dass er ins beschauliche Kiel will.

Rapp hat Lewis Holtby gestärkt und Fiete Arp wieder Selbstbewusstsein gegeben

Wobei man sagen muss: Ein wenig stürmisch waren die Startbedingungen an der Förde schon. Sein Vorgänger Ole Werner, als Eigengewächs bis dahin das Gesicht des Vereins, hatte den Job nach kräfteraubenden Wochen hingeworfen. Nur wenige Monate zuvor war Holstein im Halbfinale des DFB-Pokals und vor dem Aufstieg in die erste Liga gestanden. Zwei Corona-Quarantänen brachen Rhythmus und Selbstverständnis der Mannschaft. Rapp übernahm die "Störche" im Sturzflug Richtung Abstiegsplätze, doch den Aufprall hat er abgewendet. Ihm half dabei, dass die Identifikationsfigur Werner aus freien Stücken gegangen war, das hat Rapp eine vorbehaltlose Integration im Klub ermöglicht. Außerdem wurde sein Gesicht nicht mit den Enttäuschungen der jüngeren Vergangenheit assoziiert. "Wir hatten die Möglichkeit auf einen Neubeginn, konnten eine positive Energie entwickeln", sagt Rapp.

In Rapps erster Saison belegten die Kieler Platz neun, in der darauffolgenden Platz acht. Der Coach steht für einen mutigen, aber ausbalancierten Fußball, in dem jeder weiß, was er wann zu tun hat. Er ist nicht dogmatisch, aber seine Inhalte will er schon umgesetzt sehen. Der Kieler Flügelspieler Tom Rothe, 19, hat über Rapps detailversessene Arbeitsweise gesagt: "Er kann richtig nerven - im positiven Sinne." Rothe, ausgeliehen von Borussia Dortmund, macht sich hervorragend, er ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen sich Rapps Einfluss als Entwicklungshelfer zeigt.

Vor der Saison gab es einen großen Umbruch, einige erfahrene Akteure haben den Klub verlassen, der Altersschnitt fiel von 27,1 auf 24,8 Jahre. Rapp hat deshalb zuerst die robusten Persönlichkeiten im Team gestärkt, darunter den früheren Nationalspieler Lewis Holtby oder Eigengewächs Philipp Sander, der ein wenig überraschend zum Kapitän ernannt wurde. Und auch einer echten Rarität in seinem Team hat er sich erfolgreich gewidmet: Fiete Arp, 24, einst beim HSV hochgejubelt als Stürmerheilsbringer der Nation und dann beim FC Bayern in einem Teufelskreis aus Stagnation und Selbstvertrauensdefiziten gefangen. Unter Rapp gab es zwar nicht ganz den besten Arp zu sehen, der er sein könnte - aber so konstant abgeliefert hatte der Angreifer zuvor nie im Profifußball. Das Erreichen der nächsten Leistungsstufe wird sich allerdings verzögern: Arp hat sich im Trainingslager die Sehne gerissen und fällt erst mal aus.

Unwahrscheinlich, dass die Kieler in den nächsten Wochen etwas überstürzen werden. Weder bei Arps Genesungsprozess noch beim Formulieren von Aufstiegsambitionen. Rapp freut sich ohnehin erst mal darüber, dass das alte Hausmeisterhäuschen am Trainingsgelände erweitert wird, weil das Team einen neuen Aufenthaltsraum braucht. "Die Infrastruktur konnte hier mit der sportlichen Entwicklung nicht ganz Schritt halten", sagt der Coach und weiß: Er ist schuldig im Sinne der Anklage.

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