Handball-EM:"Es scheint ein kleiner Neustart zu sein"

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Gesicht einer lange vermissten Mentalität:: Timo Kastening. (Foto: Robert Michael/dpa)
  • Die deutschen Handballer entdecken ihre Spielfreude wieder und besiegen Weißrussland in der EM-Hauptrunde mit 31:23 (18:11).
  • Besonders Timo Kastening überzeugt - mit sechs Toren und einer Menge Spielwitz. Am Samstag geht es weiter gegen die starken Kroaten.
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Von Saskia Aleythe, Wien

Persönliche Auszeichnungen stehen im Handball manchmal für mehr als für die individuelle Stärke eines Spielers. Als Timo Kastening am Donnerstagabend in der Wiener Stadthalle ausgerufen wurde, um sich den Titel als bester Spieler der Partie gegen Weißrussland abzuholen, da repräsentierte der 24-Jährige ein ganz neues Gefühl; eine Mentalität der DHB-Auswahl, wie es sie bei dieser EM noch nicht zu sehen gegeben hatte. Zum ersten Mal seit Turnierbeginn schien die Mannschaft von Trainer Christian Prokop Spaß zu haben.

Zahlreiche abgeluchste Bälle, vorne eine Torausbeute von 100 Prozent bei sechs Versuchen: Kastening war in seinem erst elften Länderspiel die personifizierte Erklärung dafür, wie einfach der Handball sein kann und warum die Deutschen nach einer Vorrunde zum Kopfhängenlassen gegen Weißrussland mit 31:23 (18:11) doch in Schwung gekommen sind.

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"Es scheint ein kleiner Neustart zu sein", sagte Kastening nach der Partie. Nur ein paar Schritte neben ihm erklärte DHB-Vizepräsident Bob Hanning die größte Stärke des Rechtsaußen: "Timo ist halt völlig befreit. Der macht sich viel weniger einen Kopf als das manch ein erfahrener Spieler macht." Lockerheit hatte man im Team zuletzt schmerzlich vermisst. Und die Crux ist ja: Je mehr man sie sucht, desto verkrampfter kann die Sache enden.

Die Atmosphäre in Wien tut dem Team gut

Reisen kann die Gedanken befreien und so war der Ortswechsel von Trondheim nach Wien eine willkommene Gelegenheit, nicht nur die Vorrunde, sondern auch die entstandene Unsicherheit in Norwegen zu lassen. "Wir sind mit einem ganz schlechten Gefühl aus Trondheim abgefahren", erzählte Kreisläufer Hendrik Pekeler, nach der hohen Niederlage gegen Spanien im zweiten Spiel hatten sich die letzten 15 Minuten gegen EM-Neuling Lettland in den Köpfen festgesetzt, als man am Ende nur zittrig mit einem Tor Vorsprung die Partie für sich entschied. Doch schon in den Anfangsminuten gegen Weißrussland zeigte sich, dass man an den Schwächen gearbeitet hatte: Als es nach acht Minuten 6:3 für die Deutschen stand, waren fünf Tore durch Konter oder eine schnell ausgeführte Mitte zustande gekommen - ein Tempospiel, das es so bisher noch nicht gegeben hatte.

Das Einlaufen in die gut besuchte Halle in Wien hatte das deutsche Team in eine ganz andere Atmosphäre versetzt als in Trondheim. "Das gibt einem natürlich Mut, gerade nach so einer verkorksten Vorrunde", sagte Mittelmann Philipp Weber; Hanning fühlte sich ein Stück weit "wie zu Hause" und so was kann ja tatsächlich ein gutes Gefühl verleihen: Bei der WM vor einem Jahr in Deutschland war der DHB ja auch durch die Begeisterung der eigenen Anhänger bis ins Halbfinale gestürmt.

Begünstigt durch die Heimatgefühle zeigte sich die Mannschaft schließlich gegen Weißrussland auf allen Positionen verbessert. "Wir haben in der Abwehr einen Zahn zugelegt", sagte Kreisläufer Jannik Kohlbacher, auch der neu ins Team gestoßene Johannes Golla überzeugte. Durch die Defensivleistung habe man Torwart Andreas Wolff "die Chance gegeben, Bälle zu halten".

Tatsächlich kam Wolff am Ende auf zwölf Paraden und 35 Prozent gehaltene Bälle, seine beste Turnierleistung bisher. Was wiederum begünstigte, dass man schnelle Tore werfen kann. "So müssen wir uns vorne nicht ganz so abmühen", sagte Kohlbacher. Ein vernünftiges Konterspiel sucht man in Deutschland schon länger, weil es den wackeligen Rückraum entlasten kann. Acht Gegenstoß-Tore sind gegen Weißrussland so zustande gekommen. Mit acht Toren Vorsprung hat man gewonnen.

Dass die Weißrussen ein schmeichelhafter Gegner waren, weil sie in ihrem bisher schwächsten EM-Spiel mit diversen Ballverlusten den Deutschen das Leben erleichterten, wusste man bei aller Euphorie aber auch. "Genauso wie ich nicht alles schwarz gesehen habe vorher, sehe ich jetzt nicht alles rosarot", sagte Hanning im pinken Jackett. Erneut hatten sich in der zweiten Halbzeit Konzentrationsschwächen eingeschlichen; die Zahl der Fehlpässe und -würfe stieg an.

Das sind Mängel, die der nächste Gegner Kroatien konsequenter bestrafen wird als Weißrussland, schließlich hat sich die Mannschaft vom Balkan nach den Favoritenstürzen mit Dänemark und Frankreich zum ernsthaften Titelkandidaten entwickelt. Um Kroatien zu schlagen und das ausgegebene Ziel Halbfinale weiterhin erreichen zu können, bräuchte man noch mal "zehn Prozent mehr", sagte Hanning.

Die werden dann auch von Julius Kühn gefragt sein, der gefährlichste Rückraumschütze der Deutschen hatte gegen Weißrussland mit ungewöhnlichen Problemen zu kämpfen: In der Halbzeit wurde er in der Kabine eingeschlossen. "Ich kam aus der Toilette und dachte: Hier ist ja nicht viel los", sagte Kühn später, "plötzlich war gar keiner mehr da, die Tür war zu." Doch der 26-Jährige wurde noch rechtzeitig befreit. Und war dann wie angestachelt auf das Spiel gegen Kroatien: "Es wird ein Spiel sein, wo viele Emotionen sein werden. Ich hoffe, dass das Hallendach dann wegfliegt - zu unseren Gunsten." Es waren neue Töne einer zuletzt tief verunsicherten Mannschaft. Wien ist halt nicht Trondheim, Wien ist die Hauptstadt der Musik.

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