Nach dem Abpfiff gingen die siegreichen Fußballer von Borussia Mönchengladbach wie immer zu ihren Fans, aber diesmal reichte es nicht, sich vor die Tribüne zu stellen und ihnen vom Spielfeld aus zuzuwinken. Diesmal musste die gesamte Mannschaft die leere Nordtribüne hinaufsteigen, durch eine der Zugangsluken hinausgehen und dann durch den Zaun gemeinsam mit jenen Hunderten von Fans feiern, die draußen vor dem Stadion warteten und dort ein veritables Feuerwerk anzündeten. "Es ist beachtlich, dass sich so viele Menschen im Regen hinter die Nordtribüne stellen", sagte hinterher der Mittelfeldspieler Christoph Kramer. "Das war ein sehr schöner Moment."
Vor dem Spiel war alles eher mau gewesen: kein Stau auf der Autobahn 61, kein Stop-and-Go auf der Aachener Straße, keine Shuttle-Bus-Kolonnen vom Bahnhof Rheydt, die Parkplätze rund ums Stadion leer, die Rollläden an den Kiosken heruntergelassen. Die Gänsehaut-Schnulze "Die Seele brennt" wurde trotzdem abgespielt, als die Spieler einliefen, doch die Seele des Fußballs war diesmal absent, alle Tribünen leer. Drunten auf dem Rasen spielten Borussia Mönchengladbach und der 1. FC Köln 2:1 (1:0) im Nachholspiel, es gab drei Punkte für Gladbach, so nüchtern muss man das bilanzieren. Diesmal gab es im Stadion nur Fakten, keine Emotionen. "Das war beängstigend", sagte hinterher der sichtlich entgeisterte Schiedsrichter Deniz Aytekin.
Beim ersten Geisterspiel in der 57-jährigen Historie der Fußball-Bundesliga wurde deutlich, wofür es den Bundesliga-Fußball eigentlich gibt: nicht für die Profis, deren Millionengehälter oder deren Ruhm - sondern zur Freude der Massen. Undenkbar, dass in der Oper gesungen wird ohne Publikum, dass ein Kinofilm läuft in einem geschlossenen Kino, dass ein Koch kocht in einem Restaurant ohne Gäste. Aber genau das ist passiert im Fußballstadion von Mönchengladbach. All der Platz, zwei Rundum-Etagen für 54 000 Zuschauer, blieb leer, während drunten 22 Männer Ball spielten. Wie das ist, wenn ein Stadion von Melancholie erfasst wird, konnte man im Borussia-Park fühlen.
Einige Hundert Gladbacher Fans singen vor dem Eingang
Am Zaun der Nordtribüne, gleich hinter dem Tor, war ein Banner aufgehängt, das einzige im Stadion. "Holt den Derbysieg", stand darauf. Ein Gruß von den Fans, die man eine halbe Stunde vor dem Anpfiff plötzlich ihr übliches Repertoire absingen hören konnte. Einige Hundert Gladbacher Fans standen bereits vor dem Eingang zur Nordtribüne und sangen aus vollem Hals. Als das Spiel angepfiffen wurde, waren sie zunächst wieder verschwunden.
Nur die TV-Kameras dokumentierten dann, was sich im Inneren abspielte, aber viel ging da nicht zusammen in der ersten halben Stunde. "Wir dürfen nicht überpacen", hatte Gladbachs Trainer Marco Rose vorher gewarnt: nicht versuchen, die mangelnde Atmosphäre durch zusätzliche Kilometer zu kompensieren. Und das machten die Spieler beider Mannschaften zunächst mal gut: Sie kompensierten nichts.
Kölns Manager Horst Heldt und Gladbachs Trainer Marco Rose hatten schon mal ein Geisterspiel erlebt: Heldt 2013 als Manager von Schalke 04 bei einem Europapokalspiel in Saloniki und Rose 2019 als Trainer von RB Salzburg bei einem Europapokalspiel in Belgrad. Von den Erfahrungen waren beide nicht angetan, "ganz unangenehm", hatte sich Rose erinnert und geklungen, als berichte er von einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
Immerhin bloß wie eine Zahnreinigung fühlte sich das Spiel anfangs an. Man kennt das von den im TV übertragenen Testspielen aus Wintertrainingslagern in Sonnenländern: Man hört jeden Schuss und jeden Ruf der Spieler. Die Trainer Rose und Markus Gisdol wurden von den Spielern endlich mal wahrgenommen mit ihren Anweisungen. Als Breel Embolo in der 32. Minute auf Herrmann-Vorlage mit einem Schlenzer das 1:0 erzielte, gab es unerwartet doch ein bisschen Jubel auf der Haupttribüne. Wo sonst die VIP-Gäste sitzen, standen Repräsentanten beider Klubs.
Ungefähr zwei Millionen Euro netto sind der Borussia am Mittwoch entgangen, so viel Einnahme bringt ein Heimspiel mit allem drum und dran. "Das sind Verluste, die uns ein Stückweit ins Mark treffen", hatte der Manager Max Eberl vor dem Spiel gesagt. Umso wichtiger war ihm der Sieg, der die Gladbacher auf den vierten Tabellenplatz beförderte, jenen Rang, auf dem man sich am Saisonende fürs Millionengeschäft namens Champions League qualifizieren würde.
In der zweiten Halbzeit hatte das Spiel deutlich an Tempo aufgenommen. Die Vorentscheidung fiel in der 70. Minute, als Kölns Verteidiger Jorge Meré eine Hereingabe von Embolo klären wollte, aber ins eigene Tor grätschte. Mark Uth verkürzte für die Kölner nach einem missratenen Abschlag vom Torwart Yann Sommer in der 81. Minute nur noch auf 1:2 und vergab in der Nachspielzeit eine Riesenchance zum Ausgleich. "Vielleicht wäre ein 2:2 sogar gerechter gewesen", sagte Kölns Trainer Markus Gisdol. Rose fand neben dem Sieg und dem außergewöhnlichen Moment mit den Fans bemerkenswert, "dass beide Mannschaften es geschafft haben, fußballerisch ein Derby draus zu machen - auch wenn es sich für niemanden so angefühlt hat".