Gastgeber bei der Fußball-EM:Die Realität erdrückt Frankreichs Fußballer

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Didier Deschamps war einer der besten defensiven Mittelfeldspieler Europas, mit Frankreich wurde er Welt- und Europameister. Seit 2012 trainiert der 47-Jährige die Équipe Tricolore. (Foto: Franck Fife/AFP)

Zwischen der Terror-Debatte und Rassismus im eigenen Team: Gastgeber Frankreich startet am Abend in die Europameisterschaft - doch um Fußball geht es nur selten.

Von Claudio Catuogno, Paris

Am Donnerstag sind die 23 Spieler der französischen Nationalelf und ihr Trainer Didier Deschamps in einen Bus gestiegen und von ihrem Hotel in Clairefontaine-en-Yvelines in ein Hotel in Paris-Bercy gefahren. Dort werden sie diesen Freitag erneut in den Bus steigen und weiterfahren nach Saint-Denis. Ins Stade de France, zum Eröffnungsspiel der Fußball-EM gegen Rumänien. Saint-Denis ist ein Vorort von Paris, Clairefontaine ist ein Vorort von Paris, man kann sich also fragen, warum sich die Franzosen das antun, rein nach Paris für eine Nacht, dann wieder raus. Die Antwort gibt das EM-Reglement der Uefa, Artikel 23, Absatz drei. 24 Stunden vor jedem Spiel müssen die beteiligten Teams im Umkreis von 60 Kilometern um das Stadion eingetroffen sein. Von Clairefontaine nach Saint-Denis sind es, wenn man die Autobahn nimmt: 67 Kilometer.

Sie hätten da kleinlich sein können, die Franzosen, sie hätten im Routenplaner die Option "kürzeste Distanz" wählen können, dann wären es 57,5 Kilometer gewesen. Aber dann hätte sie die Uefa vielleicht gezwungen, tatsächlich über die Dörfer zu fahren, über La-Celle-les-Bordes, Saint-Rémy-lès-Chevreuse . . . Und jetzt noch eine Anfahrts- und Hotel-Debatte, das hätten sie wirklich nicht brauchen können.

Das Turnier bricht ja sowieso fast zusammen unter der Last all der Debatten.

Deschamps: "Ich habe niemals Probleme"

Deschamps sieht also das Positive. Ist so ein bisschen sinnloses Busfahren nicht ein willkommener Ausbruch aus der Monotonie des Trainingslagers? Gibt ein neues Zimmer, ein neues Bett den Spielern nicht einen zusätzlichen Hinweis darauf, dass es jetzt wirklich losgeht? Von den vielen Fähigkeiten des Didier Deschamps ist die vielleicht außergewöhnlichste sein kompromissloser Pragmatismus. Als Deschamps kürzlich in einem Interview mit der Zeitung L'Équipe gefragt wurde, ob es nicht langsam ein bisschen viel werde mit den Problemen, sagte er: "Probleme? Ich habe niemals Probleme. Ich habe Lösungen zu suchen, und wenn möglich die besten."

Im Sommer 1998, als die Franzosen das letzte Mal ein Turnier im eigenen Land zu bestreiten hatten, war Deschamps der Kapitän, und viele, die dabei waren, sagen, dass er schon damals eine Art Schattentrainer war. Derjenige, der immer wusste, was zu tun ist. Am Ende hielt er den WM-Pokal in die Höhe im Stade de France. Aber nicht alle Herausforderungen kann "DD" jetzt alleine lösen. Wenn das reale Leben über den Fußball hereinbricht, ist auch der Sélectionneur nur ein sehr kleines Licht.

Man muss da nur noch mal an den 13. November zurückdenken, was alle, die damals dabei waren, gerade häufig tun. Die drei Detonationen während des Testspiels gegen Deutschland - islamistische Selbstmordattentäter, die ihre Sprengstoffgürtel nur deshalb vor und nicht im Stade de France zündeten, weil sie entdeckt wurden. Stundenlang harrte die französische Elf zusammen mit den Deutschen in den Katakomben aus, während in der Stadt der Terror wütete. Der Nationalspieler Lassana Diarra hat damals eine Cousine verloren, Asta, seine Lieblingscousine, sie starb im Kugelhagel an der Rue Bichat. Sehr viel näher kann die Bedrohung sich nicht heranschleichen an den Fußball. Und Diarra rührte damals viele Franzosen zu Tränen mit seinem Appell: "In diesem Klima des Terrors ist es für uns alle, die wir unser Land und seine Vielfältigkeit repräsentieren, wichtig, das Wort zu ergreifen und vereint zu bleiben gegen einen Horror, der weder Farbe noch Religion hat."

Jetzt sind überall Polizisten und private Sicherheitsleute. Mehr als 100 000 sollen das Turnier und seine Gäste schützen. Das Stade de France ist von hohen Zäunen umgeben. Das Innenministerium hat wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel eine App vorgestellt, mit der man Verhaltensregeln auf sein Smartphone bekommt, wenn man in der Nähe eines Terroranschlags ins Netz eingeloggt ist.

Und es gibt jetzt auch diese frischen Bilder von der Fanzone in Lyon, auf denen Menschen in Trikots von Spezialeinheiten vor bewaffneten Angreifern in Sicherheit gebracht werden. Eine Terrorübung. Hinten im Bild sieht man die blauen Uefa-Banner, davor die um sich schießenden Terroristen-Darsteller. Die organisierte Unbekümmertheit, die ja auch immer mit dazugehört, wenn der Fußball alle zwei Jahre irgendwo anders Station macht mit seinen Welt- oder Europameisterschaften - sie ist diesmal sehr, sehr weit weg.

Lassana Diarra wird die EM verpassen. Eine Entzündung im linken Knie. Und von dem Geist, den er im November beschwor, ist auch nicht viel übrig. Vereint bleiben? Gemeinsam die Vielfalt repräsentieren?

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Die französischen Zeitungen sind gerade voll mit Kommentaren zum Thema Fußball und Rassismus. Der Stürmer Karim Benzema von Real Madrid hat das heraufbeschworen mit dem Vorwurf, Deschamps habe ihn wegen seiner arabischen Wurzeln nicht in die EM-Auswahl berufen. Nicht, weil der Trainer selbst ein Rassist sei - aber weil er "sich dem Druck eines rassistischen Teils von Frankreich gebeugt" habe.

Und es geht auch um Fußball

Der Vorwurf ist perfide. Benzema, der erfolgreichste Stürmer der letzten Jahre, ist ja nur deshalb nicht dabei, weil ein paar seiner Jugendfreunde versucht haben, seinen Nationalelf-Kollegen Mathieu Valbuena mit einem Sexvideo zu erpressen. Benzema soll sich dabei als eine Art Mittler betätigt haben. Die Staatsanwaltschaft führt ein Verfahren gegen ihn.

Aber jetzt ist das Thema Rassismus halt in der Welt, Didier Deschamps würde sicher auch gerne etwas dazu sagen, aber Philippe Tournon, der Pressechef der Bleus, stellt in Clairefontaine immerzu klar: Keine Fragen zu Benzema! Nicht, weil Deschamps in der Sache keine Argumente hätte. Aber bloß kein Öl ins Feuer gießen, wo es eh schon genug andere Flammen zu löschen gibt. Einen Satz hat sich Deschamps aber doch nicht verkneifen können im Interview mit L'Équipe: "Niemand hat das Recht, meine Familie da reinzuziehen." Kürzlich hat jemand das Wort "Rassist" an seine Hauswand geschmiert.

Fast könnte man vergessen, dass es auch irgendwie um Fußball gehen soll in den kommenden vier Wochen. Wobei man Deschamps abnehmen darf, dass er selbst an nichts anderes denkt, immer getreu dem Mantra, wonach es keine Probleme gebe, bloß Lösungen. Dabei gibt es so einige Probleme. Neben Benzema und Valbuena sind ihm nach und nach auch Mamadou Sakho (positiver Dopingtest) sowie Raphaël Varane, Mathieu Debuchy, Benoît Trémoulinas und Jérémy Mathieu mit diversen Blessuren abhanden gekommen. Von der Mannschaft, die vor zwei Jahren in Brasilien noch so viel Hoffnung machte, ist kaum noch etwas übrig. In der Abwehr hat Deschamps den nachnominierten Adil Rami, 30, vom FC Sevilla gleich zum Stammspieler machen müssen, nachdem er ihn bisher mehrere Jahre ignoriert hatte, tendenziell aus "charakterlichen Gründen".

Und dann sind da auch noch diese gigantischen Erwartungen im Land, die nicht zuletzt daraus genährt werden, dass bisher alles zu Gold wurde, was Didier Deschamps angepackt hat. Er sagt: "Eine solche Unterstützung habe ich noch nie gespürt." Die Erwartungen passen nicht ganz zur Verfassung der Bleus, aber auch damit muss er jetzt irgendwie umgehen. Didier Deschamps wird schon eine Lösung finden.

© SZ vom 10.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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