Größe bemisst sich im Fußball auch an Toren, und wer sich mit entsprechenden Statistiken beschäftigt, landet rasch bei Gerd Müller. Zu seinen Rekorden zählte einer, der besonders hübsch wirkt. Müller erzielte in 427 Spielen exakt 365 Bundesliga-Tore für den FC Bayern, ein Tor pro Kalendertag also - damit durfte er sich knapp vier Jahrzehnte als einzigartig fühlen, da kein anderer Spieler es vermochte, so viele Tore für einen einzigen Klub in einer der Top-Vier-Ligen zu erzielen. Nicht in Deutschland, nicht in England, Italien oder in Spanien. Bis der Argentinier Lionel Messi in dieser Woche ebenfalls auf 365 Ligatore kam, in 400 Spielen für den FC Barcelona.
Schon jetzt lässt sich sagen: Messi wird Müller wohl übertreffen. Womöglich schon am Sonntagabend, wenn Barça in San Sebastián spielt. Ja, Cristiano Ronaldo hat bereits 373 Treffer erzielt; da er sie aber für Manchester United und Real Madrid geschossen hat, fehlt ihm der Treue-Bonus der Müller & Messi-Rekorde.
Entscheidend ist ohnehin etwas anderes: Dass erst so ein epochaler Stürmer wie Messi, der vielleicht beste Spieler der Geschichte, kommen muss, um Müller, 72, nach 40 Jahren eine Bestmarke zu entreißen. Das betont die Figur Müllers in der Fußballgeschichte noch deutlicher. Und wenn man sich die beiden vor Augen führt, stößt man jenseits der atemberaubenden Torzahlen und ihrer Loyalität zu Vereinsfarben durchaus auf Gemeinsames. Nicht nur, weil sie durchaus ähnlicher Statur waren. Sie ähneln einander in Geistesgegenwart und Koordinationsfähigkeit, in Reaktionsschnelligkeit und in der instinktiven Sicherheit, den Ball in dem 2,44 hohen und 7,32 breiten Tor unterzubringen. Im Strafraum tritt am ehesten zutage, was die beiden besonders auszeichnet: dass ihre Gesten sich immer auf das Ziel verdichten, ein Tor zu erzielen, ohne weitere Hintergedanken.
"Messi macht nie Schnörkel!"
"Welche Schnörkel macht Lionel Messi?", fragte sich dieser Tage Messis früherer Mitspieler Xavi in einem Interview und antwortete sich dann selbst: "Messi macht nie Schnörkel!"
Genau das hätte er auch auf Müller münzen können, dem die ästhetische Dimension seiner Treffer nachgerade egal waren. Anders formuliert: Auch Messi kann müllern oder im Strafraum zu Müller werden. Aber umgekehrt?
Müllers Habitat war - Doppelpässe mit Beckenbauer hin oder her - auf die 665,28 Quadratmeter des Sechzehners beschränkt. Der Kontext, in dem sich die Stürmer heute bewegen, hat sich aber geändert. Von Neunern moderner Prägung wird eine intensivere Einbindung ins Spiel verlangt, als sie Stürmer wie Müller, der Ungar Ferenc Puskás oder der Brasilianer Romário an den Tag legen mussten, um nur einige zu nennen.
Stürmer heute müssen im Zweifel wie Halbstürmer denken, wie Regisseure handeln und wie Neuner knipsen können - mindestens wie Robert Lewandowski beim FC Bayern oder Karim Benzema bei Real Madrid, idealerweise wie Messi, der Züge eines fußballerischen Universalgenies trägt wie vor ihm der Brasilianer Pelé oder der Argentinier Alfredo Di Stéfano. Messi begann als eine Art Rechtsaußen, spielte mal als "falsche", seltener als "echte" Neun, mimte dann wieder den Regisseur, tauchte auf und wieder ab. Mal plagiiert er berühmte Maradona-Tore, indem er über den ganzen Platz dribbelte wie sein berühmter Landsmann, dann verwandelt er Freistöße aus der Halbdistanz direkt, dann wieder scheint er bloß teilnahmslos über den Platz zu flanieren, um dann unvermittelt zu explodieren - und umstandslos zu treffen wie einst Gerd Müller.
Es sei schade, dass der Rekord gefallen sei, sagte der große Bayer Franz Bulle Roth. "Aber das ändert nichts daran, dass Gerd Müller für mich der beste Mittelstürmer ist, den es je gegeben hat." Vielleicht würde das sogar Messi unterschreiben.