Fußball-EM:Oranje ergraut, Tschechien strahlt

Lesezeit: 3 Min.

Patrik Schick erzielt das 2:0 in Budapest. (Foto: Alex Pantling/Getty Images)

Nachdem Abwehrchef Matthijs de Ligt die rote Karte sieht, schießt Tschechien zwei Tore und wirft die Niederlande nach einer starken Vorrunde überraschend aus dem Turnier.

Von Ulrich Hartmann, Budapest/München

Könnte gut sein, dass der Trainer Frank de Boer demnächst mehr Zeit hat, sich der Sammlung von Fußball-Weisheiten zu widmen. Seine jüngste Erkenntnis, dass "in einer einzigen Minute eine ganze Welt zusammenbrechen kann", ist schuld am Europameisterschafts-Aus der Niederlande und daran, dass noch am Sonntagabend eine Debatte um die Zukunft des Bondscoachs begonnen hat. "Wir haben jetzt einen Kater", vertröstete de Boer, "lasst uns ein anderes Mal über die Zukunft sprechen."

Im Achtelfinale gegen Tschechien hat es immerhin drei Minuten gedauert, um die Welt des Oranje-Fußballs zusammenbrechen zu lassen. In der 52. Minute lief Donyell Malen allein auf das tschechische Tor zu und hatte den Treffer zum möglichen Einzug ins Viertelfinale auf dem Fuß. Doch er scheiterte am Torwart Tomas Vaclik. Drei Minuten später behalf sich der Abwehrchef Matthijs de Ligt im Laufduell gegen Tschechiens Stürmer Patrik Schick als letzter Mann eines Handspiels und wurde des Feldes verwiesen. "Von dieser roten Karte haben wir uns nicht mehr erholt", klagte der niederländische Kapitän Georginio Wijnaldum. Ein Kopfball von Tomas Holes (68. Minute) und ein Schuss von Schick (80.) besiegelten Tschechiens 2:0-Sieg. "Es ist ein komisches Gefühl", sagte Wijnaldum, "weil ich den Eindruck hatte, dass wir im Turnier gewachsen waren."

Doch nach drei Siegen im heimischen Amsterdam war den Niederländern auf dem 1100-Kilometer-Flug nach Budapest die Leichtigkeit verloren gegangen. Die Puskas-Arena erstrahlte zwar auch in Orange dank Tausender mitgereister Fans, doch ihre hochgehandelten Fußballer konnten den Erwartungen nicht gerecht werden. Für die leidenschaftlichen, cleveren und hocheffektiven Tschechen geht es im Viertelfinale am Samstag in Baku gegen Dänemark. "Das hätte uns niemand zugetraut", sagte Schick stolz. "Wir haben vielleicht nicht die großen Stars in der Mannschaft, aber wir haben einen tollen Teamgeist."

Ruud van Nistelrooys mahnende Erinnerung an die EM 2008 hilft nicht

Erstmals seit 2008 hatten die Niederländer in ein EM-Viertelfinale einziehen wollen, wobei man bedenken muss, dass das Viertelfinale damals die erste K.o.-Runde war. Sie hatten damals auch ihre drei Gruppenspiele gewonnen und hegten heimliche Titel-Gedanken. Dann aber war Schluss gegen Russland. Ruud van Nistelrooy, damals Oranje-Stürmer und heute Co-Trainer, hat der Mannschaft diese Gruselgeschichte vor dem Tschechien-Spiel erzählt. Zur Mahnung. Aber es hat nichts genützt. Oranje hat das Malheur von 2008 wiederholt. Und jetzt wird es brenzlig für den Bondscoach de Boer.

Weil er ein Tempospiel aufziehen wollte, hatte er sich für den Sprinter Donyell Malen (22, PSV Eindhoven) anstelle des baumlangen Wout Weghorst (28, VfL Wolfsburg) entschieden. Ein anderer Bundesliga-Legionär erhielt derweil im tschechischen Trikot seine erste EM-Chance. Der Außenverteidiger Pavel Kaderabek (29, TSG Hoffenheim) hatte zuvor nicht eine Minute gespielt, wurde vom Nationaltrainer Jaroslav Silhavy aber ins kalte Wasser geworfen.

Die Pläne des Oranje-Trainers ließen sich kaum umsetzen. Malen hatte keinen Platz für seine Schnelligkeit. Die Tschechen stellten alles zu. Die Niederländer wirkten zerknirscht. Hinzu kam die latente Konter-Gefahr. Die beste Chance der ersten Halbzeit hatte nicht Oranje, sondern Tschechiens Antonin Barak. Der für den verletzten Vladimir Darida (Hertha BSC) in die Mannschaft gekommene Angreifer von Hellas Verona schoss in der 38. Minute aus sechs Metern über das Tor.

"Wir haben ihnen keinen Platz zum Spielen gelassen", fasste Tschechiens Trainer Silhavy zusammen.

Die vier jüngsten Spieler auf dem Feld gehörten alle zur niederländischen Mannschaft: Matthijs de Ligt, 21, Donyell Malen, 22, Frenkie de Jong, 24, und Denzel Dumfries, 25. Aber eine große Zukunft ist im Hier und Jetzt oft nicht viel wert. Ausgerechnet Malen und de Ligt zeigten sich unglücklich mit der vergebenen Chance in der 52. und dem Handspiel in der 55. Minute.

Das Omen für Oranje wurde düsterer, nachdem Holes (Slavia Prag) in der 68. Minute völlig verwaist per Kopf zum 1:0 getroffen hatte. Nun kam zwar Weghorst für hohe Verzweiflungsbälle, doch den finalen Stoß verpasste den Niederländern Schick (Bayer Leverkusen) mit seinem vierten Treffer im Turnier. "Nach der roten Karte wurde es einfacher für uns", analysierte Schick. "Wir haben ihnen keinen Platz zum Spielen gelassen", fasste Trainer Silhavy zusammen. "Es war nicht unser bestes Spiel", sagte de Boer. "Aber dafür übernehme ich die Verantwortung." Vielleicht schon sehr bald.

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