Italiens Nationalelf:Tückisch hoher Sieg

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Läuft doch: Matteo Darmian (Mitte) bejubelt mit seinen Teamkollegen den Führungstreffer. (Foto: Giuseppe Bellini/Getty Images)

5:2 gegen Nordmazedonien, den Italienern fehlt nur noch ein Punkt zur direkten Qualifikation für die EM in Deutschland. Aber was heißt hier "nur"? Der nächste Gegner ist ein anderes Kaliber.

Von Oliver Meiler, Rom

Ein Punkt noch, nur einer, ein Unentschieden - aber was heißt hier "nur"? Italien hat sich mit seinem tückisch hohen Sieg über seinen Tagalbtraum Nordmazedonien in Rom ein wenig befreit. 5:2, das klingt nicht schlecht. Und wenn es am Montag in Leverkusen, dem Ersatzspielort, gegen die punktgleiche Ukraine um die direkte Qualifikation für die Europameisterschaft in Deutschland geht, um Platz zwei in der Qualifikationsgruppe C also, dann dürfen die Azzurri nach gewonnenem Hinspiel einfach nur nicht verlieren.

Aber eben: Was heißt schon "nur"? Die ukrainische Fußballnationalmannschaft ist ja nicht gerade eine kleine Nummer, kein Nordmazedonien. Da spielen unter anderem in der Offensive zwei Herrschaften, die mit dem FC Girona gerade die spanische Liga auf den Kopf stellen: Artem Dovbyk und Viktor Tsygankov. Ein erduldetes, ermauertes, altitalienisches 0:0 würde reichen.

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Doch Italien hat jetzt einen Nationaltrainer, der in seiner langen Karriere als Vereinscoach immer offensiv spielen ließ, immer aggressiv mit und gegen den Ball. Luciano Spalletti bildet sich zu Recht etwas ein auf seine propositive Interpretation des Spiels, mit Napoli hat er es in der vergangenen Saison zur Meisterschaft gebracht - buchstäblich und ideell. Sein Italien beginnt ihm schon etwas zu gleichen, das sah man gegen Nordmazedonien. Und wahrscheinlich ist es nicht ganz nutzlos, den Film dieses 5:2 noch einmal zurückzudrehen. Es war nämlich viel mehr Thriller, als es Spalletti lieb war.

Jorginho schießt einen Elfmeter, als hätte er gegen einen Medizinball getreten

Italien begann, wie es dem Coach gefällt, mit dieser typischen Ausschwärmtaktik: alle in Bewegung, ständig. Der Gegner soll möglichst nicht verstehen, wie ihm geschieht. Die Außenverteidiger stürmen mit, drängen zur Mitte, um den Flügeln nicht auf den Füßen zu stehen. Der Regisseur im Mittelfeld, in diesem Fall Jorginho, soll immer mindestens drei Optionen haben für die Verteilung des Balls - das ist einer von Spallettis philosophischen Grundsätzen, unverhandelbar. Die Mechanik griff schnell, Angriff um Angriff.

Beim Stand von 1:0 gab es einen Strafstoß für Italien. 39. Minute, idealer geht's kaum. Und tatsächlich nahm sich jener Spieler den Ball, der einmal als sicherer Umsetzer gegolten hatte, als der sicherste überhaupt, jedoch die letzten drei verschossen hatte. Jorginho hatte es angekündigt: "Ich trete, ich spüre keine Blockade." Und Spalletti gab zu verstehen, diese Furchtlosigkeit sei die richtige Attitüde. Aufs römische Olympiastadion und in die Wohnstuben Italiens, so muss man sich das vorstellen, legte sich bange Stille.

Jorginho lief an, legte wie gehabt einen bizarren Zwischensprung ein, die Arme von sich gestreckt wie ein Ballerino, und schob den Ball Richtung Tor, lahm und recht zentral. Als hätte er gegen einen Medizinball getreten, sollte der Corriere della Sera später schreiben. Der nordmazedonische Torwart war schon in eine Ecke unterwegs, doch da war noch genug Zeit für eine Umkehr. Wieder vergeben. Es war ja auch Freitag, der 17. - und für die Italiener ist die 17, was für andere Völker die 13 ist. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, hätte sich Jorginhos linkischer Auftritt in das Selbstbewusstsein der Italiener gefressen.

Doch da schickte sich Federico Chiesa bereits an, die Dämonen zu vertreiben. 71 Sekunden nach dem verschossenen Strafstoß erhöhte der Linksstürmer von Juventus Turin auf 2:0, sechs Minuten später auf 3:0. Das Spiel schien gelaufen zu sein, und die Zeitungen hantierten schon mit den vielen Wortspielen, die sich mit dem Namen des 26-Jährigen machen lassen.

Nach dem 3:0 durch Chiesa folgt der Filmriss - plötzlich kehrt die Panik zurück

"Fede", die Kurzform von Federico, ist das italienische Wort für Glauben, und Chiesa ist das Wort für Kirche. Italien hatte also wieder Glauben, der gute Chiesa hat die Kirche wieder in die Mitte des Dorfs gerückt - irgendwann werden sie dieser Spielchen auch in den Redaktionsstuben überdrüssig. Aber verscheuchte er nicht gerade das Schreckgespenst mit seiner Klasse? Spalletti hält Chiesa für den Ausnahmespieler in seinem Team, für den einzigen Star.

3:0 - so ging man in die zweite Halbzeit. Doch dann: Filmriss. Nordmazedonien, das in diesem Spiel nichts mehr zu gewinnen hatte außer einer Bestätigung seines Potenzials als Italiens Angstgegner, schoss zwei Tore wie aus dem Nichts, 3:2, und plötzlich war die Panik zurück. Spalletti sagte nach dem Spiel, man habe sich klein gemacht, sei nicht mehr mit der üblichen Konsequenz zum Ball gegangen, in die Duelle.

Alles war möglich, auch ein Kollaps. Doch dann trafen zwei Fachkräfte fürs Toreschießen, die davor schon lange nicht mehr getroffen hatten für die Nationalmannschaft: Giacomo Raspadori (81. Minute) und Stephan El Shaarawy (93.). 5:2 also. Doch wahrscheinlich werden die Italiener so schnell nicht vergessen, dass sie zwischendurch und völlig unnötig zwanzig Minuten ihre Hände in den Haaren hatten.

Und nun noch zur Pointe des Tages. Sollte es im Entscheidungsspiel gegen die Ukraine in Leverkusen wieder einen Elfmeter für Italien geben, ja, dann wäre Jorginho, wie Jorginho selbst in die Mikrofone sagte, sehr wohl bereit, wieder anzutreten, klar - die Arme beim Sprung wohl wieder wie ein Ballerino von sich gestreckt. Und Spalletti: "Ich habe Jorginho schon gesagt: Den nächsten schießt du." Beharrlichkeit kippt halt gerne in Dickköpfigkeit um.

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