Fußball-EM:Löw: "Bastian wird auf jeden Fall beginnen"

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Am Vorabend des Halbfinales gegen Frankreich gibt Joachim Löw bekannt, dass Kapitän Schweinsteiger spielen wird. Die Spekulationen über die Aufstellung gehen aber weiter.

Von Philipp Selldorf, Évian

Letztes Training der deutschen Mannschaft im Stadion Camille Fournier in Évian, die deutschen und französischen Fahnen flattern im Sommerwind, 114 Höhenmeter abwärts schillert der Genfer See. Es gilt das bei diesem Anlass übliche Gebot: 15 Minuten offen für die Medien. Der Umfang dieser Übungseinheit ist diesmal auf eine Stunde begrenzt, darüber bestimmt nicht der Bundestrainer, sondern die Uefa, denn dieses Training firmiert als offizielles Abschlusstraining vor der Begegnung mit Frankreich am Donnerstagabend (21 Uhr/ZDF). Joachim Löw verzichtet darauf, sein Team am Abend auf den Rasen des Stade Velodrome zu führen. Der Mannschaft nach der Ankunft in Marseille Ruhe zu geben, erscheint ihm wichtiger.

Die schauderhafte Formel 15-Minuten-offen-für-die-Medien heißt normalerweise, dass die Berichterstatter Dehn- und Aufwärmübungen beobachten dürfen, deren Erkenntniswert gering ist. Oft schweift dann der Blick der Reporter auf den blauen See, und anstatt die gymnastischen Mühen zu sezieren, führen sie lieber nutzlose Unterhaltungen über den Transfermarkt oder lästern über abwesende Kollegen. Man kennt das ja: Bevor Jogi Löw Spielformen und spannende taktische Details einüben lässt, kommen die uniformierten Aufsichtskräfte und verscheuchen die akkreditierten Zuschauer von der Tribüne.

Tadellose Sidesteps und Slalomkurs

Am Dienstag aber ist alles anders. Da ist auf einmal nicht nur der Gymnastikteil von hohem Interesse, da ist sogar schon das Einlaufen der Mannschaft ein aufregender Vorgang. Vorneweg läuft der Mann, den hier keiner erwartet hat: Bastian Schweinsteiger, 31. Und er hat nicht nur ein Lächeln mitgebracht, sondern auch einen Ball, den er vor sich hertreibt. Das sieht aus wie eine Demonstration: Der Kapitän führt den Ball, die Anderen laufen hinterher. Zwei Klebeverbände befinden sich auf Knie-Höhe an seinen Beinen. Dabei handelt es sich nicht etwa um esoterische Hilfsmittel aus dem Repertoire von Schweinsteigers Wunderheiler, sondern um ein gewöhnliches sportmedizinisches Tape-Pflaster.

Sollte das also bedeuten, dass Schweinsteiger wiederhergestellt ist, nachdem er im Spiel gegen Italien "eine leichte Zerrung am Außenband" des rechten Knies erlitten hatte, wie Löw zu Wochenbeginn verbreitet hatte? Eben das. Am Abend verkündete der Bundestrainer in Marseille: "Die Verletzung ist so gut wie auskuriert. Bastian wird auf jeden Fall beginnen. Gerade in einem Hexenkessel wie hier ist seine Erfahrung enorm viel wert." Am Montag waren die Einlassungen des Bundestrainers noch als sanfte Form der Absage an die Einsatzfähigkeit des Kapitäns interpretiert worden, denn Löw legte darüber hinaus einen Schwur ab: Er werde auf keinen Fall einen Spieler in die Startelf nehmen, "der nicht hundertprozentig fit ist - das werde ich niemals mehr machen".

Sollte heißen: Diesen Fehler habe ich oft genug gemacht in zehn Jahren Bundestrainer-Dasein. Stationen dieser Irrtümer wollte Löw zwar nicht nennen ("die Erinnerungen liegen tief vergraben"), aber Fallbeispiele finden sich auch ohne die Hilfe von Historikerkommissionen. Etwa die Zitterpartie um Michael Ballack und dessen stets geheimnisvolle Wade vor dem EM-Finale 2008 gegen Spanien (0:1). Ballack hatte damals gespielt, bei besten Kräften war er nicht.

Schweinsteiger scheint nun nach Ansicht des Bundestrainers über so einen Verdacht erhaben zu sein. Man kann das für mutig halten. In der Partie gegen Italien stand der Kapitän mehr als 100 Minuten auf dem Platz, aber es blieb auch nicht verborgen, dass er im Jahr 2016 zuvor noch kein einziges Spiel über 90 Minuten hatte bestreiten können. Über Schweinsteigers generelle Konstitution hatte vor ein paar Tagen St. Paulis Trainer Ewald Lienen aus der Ferne ein vernichtendes Urteil gefällt: Als 31-Jähriger habe er "gefühlt die Karriere eines 37-Jährigen", sagte Lienen im Rahmen einer Generalkritik an den Belastungen im Hochleistungsfußball.

Mit dieser Meinung gab er den Trend der Woche vor: Schweinsteiger werde gegen Frankreich nicht spielen können, darüber waren sich ja alle Beobachter einig, und weil auch Sami Khedira verletzt ist, werde Löw mindestens einen der Spieler ausprobieren müssen, die er bisher noch nicht eingesetzt hat. Die Frage hieß: Assistiert Julian Weigl, 20, im defensiven Mittelfeld dem Cheforganisator Toni Kroos - oder darf Emre Can, 23, den Posten einnehmen? Auch Weigl und Can trainieren am Mittwoch im Stadion von Évian, aber sie werden nur noch am Rande wahrgenommen.

Beäugt wird Schweinsteiger. Tadellose Sidesteps macht der 31 Jahre alte Kapitän, er bewältigt passabel den Slalomkurs, und die Elastizität seines Kniegelenks führt er mit einer Leichtigkeit vor, als wollte er es allen zeigen. Schmerzen? Keine Schmerzen. Außer dem Befund von Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt ist für die Einsatz-Entscheidung auch Bastian Schweinsteigers Selbsteinschätzung wichtig. Aber kann Schweinsteiger die ganze Wahrheit sagen, wenn er die Frage beantwortet, ob er wirklich vollständig fit ist? Oder konstruiert er sich seine eigene Wahrheit, damit er mitspielen kann?

Der 20 Jahre alte Sané auf dem rechten Flügel?

Mancher Kenner meint, dass Schweinsteiger vor allem von dem Wunsch erfüllt ist, diese Partie nicht zu verpassen, die das vorweggenommene Endspiel darstellt. Letztlich muss Löw also auch nach einer alten Weisheit von Franz Beckenbauer urteilen. Der hatte einst als DFB-Teamchef das Prinzip aufgestellt: "Welcher Spieler fit ist, das bestimme ich - denn spielen will ja jeder."

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Schweinsteigers Einsatz beeinflusst den kompletten Aufstellungsentwurf. Ohne den strategisch bewanderten Schweinsteiger wäre eine Dreierkette plausibel gewesen. Da er nun dabei sein wird, könnte seine Aufgabe darin bestehen, die Viererkette zu beschützen. So ergäbe sich die Möglichkeit, einen zusätzlichen Spieler für den Angriff auf den französischen Schwachpunkt einzusetzen - Frankreichs Stärken liegen ja eindeutig in der Offensive.

Die von unbefugten Zaungästen verbreitete Meldung, dass Leroy Sané bei der Trainingsstunde am Dienstagnachmittag in der mutmaßlichen Startelf gestanden habe, ist dann vielleicht gar kein so abwegiger Hinweis mehr. Der 20 Jahre alte Spitzensprinter Sané auf dem rechten Flügel gegen den 35 Jahre alten Patrice Evra? Nicht die wahrscheinlichste Variante, aber eine aparte Vorstellung.

Über die Aufstellung darf noch ein bisschen spekuliert werden bis zum Anpfiff. Aber das größte Fragezeichen hat Löw selbst beseitigt. Er verzichtete darauf, dem Trainerkollegen Didier Deschamps ein Rätsel aufzugeben. Vielleicht findet sich auch darin eine Botschaft.

© SZ vom 07.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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