Fußball-EM:Darum ist Italien so gefährlich

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Giorgio Chiellini und Graziano Pellè: Ein Jubel wie ein Armdrücken (Foto: AFP)

Kein Talent, überaltert, der Calcio am Boden: Trainer Antonio Conte betont die Schwächen des italienischen Fußballs. Vor seinem Team muss man sich nun umso mehr fürchten.

Von Thomas Hummel, Saint-Denis

Antonio Conte kann auch langsam. Sehr langsam sogar. Zeitlupenartig. Auf Englisch erreichte ihn die Frage, was er vom nächsten Gegner Deutschland halte. Er hörte die Übersetzung, griff zum Kopfhörer und legte ihn so behutsam vor sich auf den Tisch, als handele es sich dabei um eine Kristallstatue des Heiligen Oronzo aus seiner Heimatstadt Lecce. Er blickte dem heiligen Kopfhörer noch versonnen nach, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. "Wir kommen gerade von einem 1:4 in Deutschland im März", sagte Conte, es sei die beste Mannschaft des Turniers. "Wir brauchen eine titanische Leistung."

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In diesen Sätzen steckte die ganze psychologische Herangehensweise des italienischen Trainers bei dieser Europameisterschaft. Wir sind die Kleinen. Die anderen haben mehr Talent, sind die besseren Fußballer. Aber wir halten zusammen und werden ihnen mit Kraft und Entschlossenheit begegnen.

Ein Blick in die Geschichte des italienischen Fußballs reicht, um zu wissen: Genau in diesen Momenten ist die Squadra Azzurra am gefährlichsten. Bevor sie 1982 Weltmeister wurde, war ihr Torjäger Paolo Rossi wegen Wettbetrugs lange gesperrt gewesen. Bevor sie 2006 Weltmeister wurde, musste Juventus wegen Spielmanipulationen in die zweite Liga absteigen. Niemand hatte von Italien davor etwas erwartet, der Calcio lag am Boden. Doch die Erschütterungen schufen jedes Mal eine verschworene Gemeinschaft und brachten den großen Triumph. 2016 nun kam die Mannschaft nach diesem 1:4 im Testspiel gegen Deutschland nach Frankreich, mit einer überalterten Truppe, die niemand kannte. Und fegte den Titelverteidiger Spanien im Achtelfinale förmlich vom Platz.

Schon bei der Hymne wild entschlossen

Es muss in der Zeit der conquistadores gewesen sein, als eine spanische Nationalmannschaft zuletzt so gnadenlos unterlegen war wie am Montagabend im Stade de France. Zumindest in den ersten 70 Minuten, als allein Torwart David de Gea ein Desaster verhinderte. Die Italiener wirkten schon beim Singen der Hymne wild entschlossen, es diesem Gegner mal wieder zu zeigen, der sie 2008 und 2012 aus dem Turnier geworfen hatte. Vor allem das 0:4 im Finale von Kiew vor vier Jahren hatten sie nicht vergessen. "Wir brauchten eine Revanche gegen Spanien", sagte Giorgio Chiellini. Und die bekamen sie.

Die Mannschaft zeigte allerdings nicht nur Willen und Mannschaftsgeist, sie verblüffte zudem mit einem ausgefeilten taktischen Plan. Dutzende Male umspielte sie das Pressing der Spanier auf die gleiche Art und Weise: Flach kam der Ball auf Höhe der Mittellinie auf einen der Außenspieler, der den Ball direkt und hoch in die Mitte schlug auf den großen Graziano Pellè. Der wartete dort schon und legte den Ball auf die nachrückenden Kollegen ab. Dieser eine Spielzug überforderte die Spanier praktisch über die gesamte Spielzeit, Italien fuhr so einen Angriff nach dem anderen.

Das 1:0 von Chiellini nach einem Freistoß nach 33 Minuten entsprach kaum dem Geschehen auf dem Spielfeld. Schon zur Halbzeit hätte die Partie entschieden sein müssen, so überlegen waren die Italiener. Die Spanier wirkten matt und ohne Inspiration, vielleicht hatte ihnen die schlechte Stimmung nach der Niederlage gegen Kroatien und der ewige Wind in ihrem Mannschaftsquartier auf der Île de Ré doch zugesetzt. In jedem Fall gab ihnen der Gegner nun den Rest.

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Allein die Laufleistung von Antonio Conte hätte ausgereicht, um Spanien an diesem Abend zu überrennen. Mitarbeiter wollten ihm bereits ein GPS-Gerät umschnallen, um zu sehen, wie viele Kilometer er im Spiel schaffe, erzählte er. Dabei fühle er sich nicht einmal fit, weil er als Trainer nicht mittrainieren könne. Während er vorne turnte, tanzte, schrie, gestikulierte, schimpfte und jubelte, muss laut Conte auch in den Tiefen der Ersatzbank einiges passiert sein: "Vielleicht realisieren es nicht alle: Auch die Leute neben dem Platz spielen mit, wir müssen alle duschen nach dem Spiel."

Am Samstag also gegen Deutschland, den Weltmeister. Conte wurde ruhig. Haben seine Spieler gegen Spanien "extraordinario" gespielt, müssten sie im Viertelfinale noch besser werden. "Super-extraordinario!" Mindestens. Vielleicht besser, als sie es eigentlich können. Denn: "Man muss nicht verleugnen, dass dies nicht die rosigste Epoche ist im italienischen Fußball, was das Talent der Spieler angeht." Da war er wieder, der psychologische Kniff, der Italien schon einige Male zu einem großen Titel geführt hat.

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