Frankreichs Antoine Griezmann:Der Stürmer, der alle anderen besser macht

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Ohne Antoine Griezmann stünden die Franzosen sicher nicht im EM-Finale. Nach dem Halbfinale gegen die DFB-Elf verärgert er auch noch Manuel Neuer.

Von Claudio Catuogno, Marseille

Das letzte Spiel gegen die Deutschen war der reine Horror für Antoine Griezmann. Dieses war nun die reine Freude. Knapp acht Monate liegen zwischen dem einen und dem anderen. Am 13. November 2015 saß Griezmann nach dem Abpfiff tief im Keller des Stade de France, auf den Bildschirmen, auf denen sonst Spielszenen gezeigt werden, liefen nun die Sondersendungen zum Terror in Paris. Selbstmordattentate vor dem Stadion, Schießereien auf offener Straße, das Massaker im Musiktheater Bataclan.

Seine Schwester Maud hatte ihm nicht gesagt, dass sie an diesem Abend ins Bataclan wollte, aber er habe es geahnt, dass sie dort sei, sagte er ihr später. 90 Minuten lang, für die Dauer eines Fußballspiels, lag sie reglos am Boden und stellte sich tot, später rettete sie sich barfuß auf die Straße hinaus. Es waren Stunden der Ungewissheit, ehe Antoine Griezmann tief in der Nacht per Twitter mitteilte, seine Schwester sei am Leben.

Dass der Fußball auf einen Schlag sehr klein werden kann, auch diese Erkenntnis gehört zur Geschichte der Spiele zwischen Franzosen und Deutschen. Am Donnerstag in Marseille machte sich der Fußball wieder sehr, sehr groß. Das wäre kaum möglich gewesen ohne Griezmann.

Neuer hat sich geärgert über Griezmann

Antoine Griezmann, 25, der Stürmer von Atlético Madrid, hat beide Tore erzielt beim 2:0 im Halbfinale gegen die Deutschen. Das erste durch jenen von Bastian Schweinsteiger verursachten Handelfmeter, dessen Ausführung die Franzosen nun als "sang-froid" preisen, als kaltblütig, mit klarem Kopf geschossen. Und "beim zweiten Tor habe ich mich etwas zurückfallen lassen, gelauert, und dann kommt dieser Fehler des Torhüters . . . "

Manuel Neuer hat sich nachher ziemlich geärgert über diese Analyse, der Stürmer Griezmann sei "vielleicht nicht der beste Beurteiler von Torwartleistungen", sagte er. Neuer schien sowieso einigen Groll zu hegen nach dieser Niederlage: "Wenn wir bei einer EM zu Hause so gespielt hätten wie die Franzosen, wären wir zur Halbzeit ausgepfiffen worden." Im Nachhinein ist das eine müßige Debatte. Und ohnehin würde man Antoine Griezmann Unrecht tun, würde man seinen Einfluss auf dieses 2:0 der Franzosen auf seine beiden Treffer reduzieren. Die Frage ist eher - da liegt der Torwart Neuer nicht ganz falsch -, wozu die Franzosen ohne Griezmann imstande wären.

Pressestimmen
:"Deutschland kaputt"

Frankreich dagegen in "Ekstase": Das ganze Land feiert die magische Nacht des Antoine Griezmann. Eine italienische Zeitung macht sich ein bisschen lustig. Die Pressestimmen.

Auch L'Équipe war am Freitag danach im blau-weiß-roten Taumel, der Titel erscheint ja nun zu Greifen nah, nur die Portugiesen stehen am Sonntag (21 Uhr) im Finale im Stade de France noch im Weg. Die harsche Kritik an der spielerischen Passivität des EM-Gastgebers versteckte die Sporttageszeitung auf einer der hinteren Seiten, in ihrer Detailanalyse zu den Laufwegen und dem Passspiel des Antoine Griezmann. "Nur ein Blauer hat wirklich Fußball gespielt", lautete eines der Urteile, "Griezmann, und zwar ohne Unterbrechung." Ein weiteres: "Die französischen Ballbesitzphasen waren nicht lang - sie wären inexistent gewesen ohne ihn."

Antoine Griezmann war bereits in der abgelaufenen Champions-League-Saison von allen Spielern der mit der zweithöchsten Laufleistung gewesen, 142 Kilometer legte er allein in der Königsklasse zurück. Als er nach dem gegen Real Madrid verlorenen Finale im Quartier der Franzosen erschien, wirkte er noch müde. Deschamps besprach mit ihm ein individuelles Trainingsprogramm, das eher ein Wiederherstellungsprogramm war. In der Gruppenphase fiel Griezmann kaum auf.

Doch seit ihn der Trainer im Achtelfinale gegen Irland (2:1) vom rechten Flügel zurück in die Mitte des Spiels geholt hat, ist er nicht nur wieder sang-froid vor dem Tor - mit nun sechs Treffern ist er der zweiterfolgreichste Torjäger einer EM hinter Michel Platini, der 1984 neun Mal traf. Vor allem ist er der Dreh- und Angelpunkt des französischen Spiels. Der ehemalige Bundesliga-Trainer Lucien Favre, der gerade bei OGC Nizza angeheuert hat, sagte L'Équipe: "Es gibt sehr wenige Spieler auf der Welt, die so viele Rollen mit dieser Effektivität ausfüllen können." Und der einstige französische Nationalstürmer Yannick Stopyra, der heute als Scout in Bordeaux arbeitet, glaubt: "Er ist ein zukünftiger Weltfußballer."

Antoine Griezmann narrt beim 2:0 die deutsche Abwehr. (Foto: Michael Sohn/AP)

Das wäre der Titel, auf den Paul Pogba erklärtermaßen scharf ist; allerdings muss Pogba in dem auf Griezmann ausgerichteten System jetzt mehr in der Defensive und im Spielaufbau schuften.

Alle Hoffnung auf Griezmann

Die Spieler, die 1984 zum ersten Mal für Frankreich ein EM-Finale bestritten, firmieren heute unter der Chiffre "Generation Platini", jene des Jahres 2000 sind die "Generation Zidane". Beide gewannen am Ende den Titel. Die Elf des Nationaltrainers Didier Deschamps, die am Sonntag den dritten EM-Pokal holen will für Les Bleus - wird sie in der Rückschau "Generation Griezmann" genannt? Es wäre eine erstaunliche Wendung in der Karriere dieses Mannes aus Mâcon in der Region Bourgogne-Franche-Comté, den einst kein französischer Profiklub für sein Nachwuchsteam wollte, weil er allen als zu klein und zu schmächtig erschien. Und den erst ein Mitarbeiter von Real Sociedad San Sebastián bei einem Jugendturnier entdeckte, der nur zufällig auf der Durchreise in Paris Station machte. Er überredete die Eltern, den damals 14-Jährigen nach Nordspanien ziehen zu lassen. Heute ist er Griezmanns Berater. Was nicht zu seinem Schaden sein wird, wenn der Stürmer irgendwann von Atlético Madrid zu einem noch größeren Klub wechselt.

Der Nationaltrainer Deschamps sagte nach dem Sieg gegen die Deutschen, Griezmann sei nicht nur ein "entscheidender Spieler für uns, weil er trifft, sondern auch, weil er dafür sorgen kann, dass alle um ihn herum gut spielen". Gut ist allerdings relativ. Deschamps hat gar nicht erst den Versuch unternommen, das Spiel im Nachhinein zu verklären, die Deutschen seien eine "starke Mannschaft" gewesen, "die uns hat leiden lassen - aber wir haben zusammen gelitten", sagte er. Gut möglich, dass auch das Finale gegen Portugal den Franzosen wieder einige Schmerzen bereiten wird. Den Rest kann dann ja Antoine Griezmann erledigen.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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