Vettel und Mercedes:"Wir hätten es anders gemacht"

Lesezeit: 4 min

Hat bei Ferrari ein vogelfreies Jahr vor sich: Sebastian Vettel. (Foto: Getty Images)

Mercedes-Teamchef Toto Wolff zeigt sich verwundert über die Umstände der Trennung zwischen Sebastian Vettel und Ferrari - und lässt ein Hintertürchen für den deutschen Fahrer offen.

Von Philipp Schneider, München

Ob er sie hat kommen sehen? Die Scheidung abruptus zwischen Sebastian Vettel und der Scuderia Ferrari? Naja, sagt Toto Wolff, lange überlegen muss er nicht. "Das war alles ungewöhnlich."

Alles ungewöhnlich. So sieht es Wolff, Teamchef bei Konkurrent Mercedes, auch drei Wochen nach der Bekanntgabe, dass der Vertrag des italienischen Rennstalls mit dem viermaligen Weltmeister am Ende dieser Saison auslaufen wird. Mit "alles" meint Wolf alle drei zeitlichen Dimensionen, die der Fall einnimmt: Seine Vorgeschichte, Gegenwart und auch Zukunft.

MeinungFormel 1
:Vettels Optionen schwinden rapide

Der Deutsche muss sich nach der Trennung gut überlegen, was er tut. Ferrari ist dagegen ein kühler, geradezu machiavellistischer Handstreich gelungen.

Kommentar von Philipp Schneider

Schon die voreilige und extrem langfristige Bindung von Vettels Teamkollegen Charles Leclerc, die kurz vor Weihnachten bekanntgegeben wurde, habe ihn überrascht, verriet Wolff bei einer Videoschalte aus seinem Zuhause. Bis 2027 unterschrieb der 22-Jährige bei Ferrari. "Das ist eigentlich nicht üblich, selbst wenn man ihn natürlich zu den außergewöhnlichen Piloten zählen muss", findet Wolff.

Vettel muss nun - theoretisch - keine Rücksicht mehr nehmen

Mindestens ebenso ungewöhnlich: Die Entscheidung aus Maranello, die Verpflichtung von Carlos Sainz, Vettels Nachfolger, der in diesem Jahr noch für McLaren fahren wird, schon vor der Saison bekannt zu geben. Wolff sagt: "Das ist etwas, das wir nicht machen würden." McLaren müsse nun ja ein Auto weiterentwickeln und Geheimnisse mit einem Fahrer teilen, von dem sie wissen, dass er diese im nächsten Jahr bei Ferrari ausplaudern wird. Spätestens. Für die Scuderia ist die Konstellation ebenfalls von Nachteil. Denn Vettel ist in seinem Abschiedsjahr im Grunde ein narrenfreier Rennfahrer, der keine Rücksicht mehr nehmen müsste auf Glanz und Gloria eines Rennstalls, der seine Zukunft nicht mit ihm teilen möchte. "Du brauchst beide Autos, die Punkte sammeln. Wenn beide Fahrer auf einem Level sind, werden sie beide auch auf dem gleichen Fleck der Strecke unterwegs sein." Und wieder sagt Wolff: "Wir hätten es anders gemacht."

Abrupt ist an der Scheidung nur die Ankündigung, nicht ihr Vollzug. Und jetzt müssen es Vettel und Teamchef Mattia Binotto noch ein halbes Jahr im selben Haus aushalten, ehe Vettel auszieht.

Man kommt kaum umhin, die merkwürdigen Umstände der Trennung so zu interpretieren wie jene, die man von früher auf dem Schulhof kennt. Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge, alles schön. Für eine Weile. Aber irgendwann gibt es halt jemanden, der neu und irre spannend ist. Dann ist Schluss. Bloß, wie sagt man es? Unnötig Gefühle verletzen will man ja nicht nach all den gemeinsamen Jahren. Erst recht nicht bei einem Team wie Ferrari, wo sie im Vorjahr hin und her lavierten, wem sie Vorfahrt gewähren wollen, und zig mal Stallorder verfügten. Mal zugunsten von Vettel, mal von Leclerc.

Wäre es in so einer Situation nicht am bequemsten für beide Seiten, der andere würde plötzlich auch keine Lust mehr verspüren auf Händchenhalten? Also muss man ihm den Spaß subtil verleiden. Und wie geht das auf dem Schulhof der Formel 1? Vielleicht macht man es wie Don Corleone in Mario Puzos Der Pate, nur ironisch ins Gegenteil verkehrt: Man legt ein Angebot vor, von dem man weiß, dass es der andere nur ablehnen kann. Das vermutet auch das Fachblatt Auto, Motor und Sport.

Vieles spricht für diese Lesart. Das langfristige Angebot für Leclerc kurz vor Weihnachten war aus Vettels Sicht ein Nadelstich. Hinzu kam Vettels öffentlicher Hilferuf, er würde gerne wieder einen Dreijahresvertrag unterschreiben, den ihm offensichtlich niemand vorlegen wollte. Aus Vettels Perspektive war und ist der Wunsch nach einer langfristigen Bindung verständlich. Zumal die Formel 1, anders als ursprünglich geplant, wegen des der Corona-Krise geschuldeten Sparzwangs auch im kommenden Jahr noch mit den Autos von 2020 kreisen wird. Ehe 2022 das neue technische Reglement greift, hat Mercedes wohl weiterhin das beste Auto im Feld. Und wenn Ferrari frühestens 2022 den technischen Anschluss findet, vielleicht auch erst 2023, wieso sollte Vettel in einem Moment aus dem Auto klettern wollen, in dem es gerade erst spannend wird?

Toto Wolff sagt also, er hätte es anders gemacht, und er lebt dies vor. Die Verträge mit Lewis Hamilton und Valtteri Bottas laufen Ende des Jahres aus. Dies führte zu Spekulationen, Mercedes könne sein Werksteam aus der Formel 1 abziehen und künftig nur noch Motoren liefern. Das Engagement sei gefestigt, versicherte Wolff nun. "Wir haben den Support. Der Werbegegenwert ist enorm und wird auch wertgeschätzt. Insofern steht das im Moment nicht zur Debatte." Im Moment. Mit Blick auf den Wachstumsmarkt der Elektromobilität, das sagte Wolff auch, bedeute dies keineswegs, "dass man dieses Engagement nicht trotzdem hinterfragen muss". Das gilt erst Recht in Zeiten, in denen unklar ist, ob die Pandemie noch in einer zweiten Welle über die Industrie schwappen wird. Die Halbwertszeit von Wirtschaftsplanungen ist nicht nur im Paralleluniversum der Formel 1 derzeit begrenzt.

Beim Zeitpunkt der Verlängerung der Verträge seiner Fahrer will sich Wolff "nicht unbedingt selbst ein enges Korsett schaffen". Das Bild ist amüsant, ahnt man doch, dass sich Ferrari mit seinen Personalentscheidungen das Korsett so eng geschnürt haben könnte, dass den Italienern nach dem Saisonstart in Spielberg Anfang Juli die Luft ausgeht. Er wolle Hamilton und Bottas zunächst frei drauflosfahren lassen, mit einer Entscheidung sei "im Laufe des Sommers" zu rechnen. Da er auch sehen wolle, wie sich der bei Williams geparkte Mercedes-Nachwuchsfahrer George Russell schlage, sei Vettel lediglich ein "Außenseiterkandidat" für ein Cockpit im Mercedes. "Vom Talent und der Persönlichkeit her" sei der viermalige Weltmeister aber einer, "zu dem ich keinesfalls sofort nein sagen würde."

Und weil Wolff noch immer nicht abschließend nein sagt, bleibt die Debatte um eine Zukunft Vettels im silbernen Auto in der Welt. Und auch wenn ein Gespann mit Vettel allein aus Hamiltons Perspektive auszuschließen sein dürfte: Aus Wolffs und Vettels Sicht schadet die Diskussion zumindest nicht. Für Vettel ist sie Werbung. Und für Wolff ein Trumpf, sollte Hamilton bei seinen Vertragsverhandlungen zu hoch pokern wollen.

© SZ vom 05.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

MeinungFerrari ohne Vettel
:Auf Wiedersehen, Formel Deutschland

Hört Sebastian Vettel nach der Trennung von Ferrari auf? Sein Abschied aus der Formel 1 wäre ein weiterer heftiger Rückschlag für den deutschen Motorsport.

Kommentar von Anna Dreher

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: