Wer nur zufällig in die Übertragung des Großen Preises von Singapur reingezappt hat, dürfte verwundert gewesen sein angesichts des Startmanövers: Vor der ersten Kurve duellierten sich zwei Ferrari mit einem Mercedes. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um eine Filmkonserve handeln musste - in diesem Formel-1-Jahr hatte schließlich nur Red Bull Racing gewonnen, zehn Rennen hintereinander Max Verstappen. Zum Prinzip jeder Serie gehört aber, dass sie mal reißt: Erstmals seit November gibt es nun wieder einen Sieger, der nicht im Namen der Dose fährt.
Der Spanier Carlos Sainz, zum zweiten Mal in zwei Wochen von der Pole-Position gestartet, brachte seinen Ferrari über 62 bisweilen dramatische Runden als Erster ins Ziel. Der Sprint am Ende, in dem Lando Norris im McLaren Zweiter und dessen britischer Landsmann Lewis Hamilton Dritter wurden, hatte es in sich: Die schnellsten drei Boliden in 1,2 Sekunden, was für ein Foto-Finish. Max Verstappen wurde von Startplatz elf aus noch Fünfter - und baute seine WM-Führung auf den Teamkollegen Sergio Perez, der bloß Achter wurde, auf 151 Punkte aus.
Sainz, der in Monza nur Dritter geworden war, fuhr diesmal ein kluges Rennen und feierte sich nach der Zieldurchfahrt selbst mit einer leicht schrägen Gesangseinlage, "Smooth Operator". Der Renningenieur stimmte über Boxenfunk mit ein. Es war eine Erlösung, denn seit Juli 2022 hatte die Scuderia nicht gewonnen: "Ein unglaubliches Wochenende. Alle bei Ferrari können stolz und glücklich sein." Nico Hülkenberg wird sich hingegen ärgern, der Emmericher war mit dem Haas-Ferrari als Neunter gestartet und belegte am Ende den 13. Rang.
Dem Red Bull fehlt die Balance - Verstappen sieht sich als "Weltmeister im Driften"
Die neue Farbigkeit hat sich schon in der Qualifikationsstunde Samstagnacht ergeben. Nach drei Trainingssitzungen, in denen sich ungekannte Abstimmungsprobleme am bislang so überlegenen Red Bull-Rennwagen offenbarten, erfolgte der Absturz: Verstappen und Perez schieden schon im zweiten Abschnitt aus. Aus den Gesichtern der Siegverwöhnten sprach Ratlosigkeit. "Eine schockierende Erfahrung", gestand der Niederländer.
Wie konnte das passieren, einfach so über Nacht? Der neue Unterboden war es nicht, denn der wurde samstags gar nicht mehr eingesetzt. Doch hatte man sich mit der Fahrzeugabstimmung bereits völlig verfahren. Mal untersteuerte das Auto, mal übersteuerte es, vor allem fehlte die Balance beim Bremsen. In Summe bilanzierte der Chauffeur ernüchtert: "Wenn der Weltmeister im Driften gesucht würde, hätte ich beste Chancen." Adrian Newey schlug die Hände vors Gesicht, der geniale Konstrukteur nimmt sowas für gewöhnlich persönlich. Verzockt schon in der Simulation, als das Auto vor Ort noch tiefer gelegt wurde, begann es aufzusetzen. Ohne jegliche Illusion konnte Verstappen als Elfter ins Rennen gehen. Was ganz vorn am Start passierte, dürfte er nicht mitbekommen haben.
Carlos Sainz erwischte einen perfekten Start, George Russell kam nur mit Verzögerung in die Gänge, und musste sich in der entscheidenden ersten Kurve auch noch von Charles Leclerc im zweiten Ferrari überholen lassen. Verstappen machte immerhin einen Rang gut, das wäre der Ehrenpunkt. Ähnlich wie in Monaco begann dann auf dem Marina Bay Street Circuit eine Prozession, nur unter brutaleren Bedingungen. Und mit Überraschungsgarantie. Als sich nach einer guten halben Stunde die führenden Ferrari-Piloten über Funk mit ihren Ingenieuren über die richtigen Abstände stritten, kam eine Regenwarnung.
Der Regen stellte sich jedoch nie ein, stattdessen gab es eine Safety-Car-Phase, weil Logan Sargeant nach einem Mauerkuss scharfe Karbonsplitter über die Piste verstreut hatte. Alles auf Null, alle zum Reifenwechsel an die Box, Verstappen aber blieb mit seinen harten Reifen draußen - und war beim Neustart Zweiter. Eine Wunderheilung? Die Hoffnung hielt nicht lange an, mit frischen Reifen wurde sein Bolide auf Rang sechs durchgereicht. "Ich fahre wie auf Eis", klagte er bei Halbzeit, wohlwissend, dass er mit seinem Pflichtstopp noch weit zurückfallen würde. Den absolvierte er in Runde 41, und es ging runter bis auf den 15. Platz.
Furiose Jagd auf den letzten Rennkilometern
Carlos Sainz hielt die Spitze, aber Rivale Leclerc war schon auf Rang fünf abgerutscht. Und George Russell im Mercedes drückte, forderte mehr Motorenpower vom Kommandostand, als er auf eine Sekunde herangekommen war: "Sagt mir, was ich tun muss, um zu gewinnen!" Überholen, was sonst? Hinter ihm lauerten Norris und Hamilton.
Mercedes schnappte den Funkspruch von Spitzenreiter Sainz auf, dass dieser noch eine Sekunde Rundenzeit in der Hinterhand habe. Kühle Replik von Verfolger Russell, der vor dem letzten Drittel auf 0,8 Sekunden dran war: "Mich wundert, dass er nicht zwei gesagt hat." Bevor es zu einem Angriff kam, rollte der Alpine von Esteban Ocon in der 43. Runde aus - das Rennen wurde virtuell neutralisiert. Das spielte auch Verstappen in die Hände. Mercedes holte überraschend beide Piloten rein, volles Risiko.
Von Rang vier und fünf begann die entscheidende Phase der Jagd, allerdings mit großem Rückstand. Ein Signal an die Ferrari-Piloten, die richtig Gas gaben. "Mach schneller!", forderte der Stratege Carlos Sainz auf. Neun Runden vor Schluss war Russell zumindest an Leclerc dran - und vorbei. Hamilton folgte im Schlepptau. Noch acht Runden und acht Sekunden auf die Spitze - jetzt ging es erst richtig los. Die ersten Vier innerhalb von 3,1 Sekunden, bei noch vier Runden. Es wurde immer enger, nur noch 1,4 Sekunden auf den letzten zehn Kilometern. Den ersten Mercedes-Angriff auf Platz zwei wehrte Norris ab, Russell leistete sich einen späten Fahrfehler und vergab damit den Podestplatz. Das half auch Sainz - der kaum noch Gummi auf der Felge hatte und trotzdem siegte.