Wenn Helmut Marko, der Formel-1-Erklärer von Red Bull Racing, von Manövern spricht, die hart an der Grenze waren, dann heißt das übersetzt: Sie waren wohl eher ein bisschen drüber. Die verschärfte Gangart betraf aber nicht nur die Angriffe auf Markos Topfahrer Max Verstappen beim Großen Preis von Italien, sie galt auch zwischen den Ferrari-Piloten Carlos Sainz junior und Charles Leclerc. Eine wilde Jagd wie diese hat die Königsklasse schon lange nicht mehr erlebt, sie geriet zum würdigen Abschied der Europa-Saison.
Begleitet wurde sie von insgesamt 300 000 Fans am vergangenen Wochenende, die sich ihr Fest auch nicht vom Party-Crasher Verstappen verderben ließen. Die Scuderia ist wieder auf Augenhöhe, nicht mehr so zögerlich wie noch im Frühsommer, Stolz und Kampfgeist sind zurück. Ganz so, als habe der Fahrtwind bei 350 km/h alle Zweifel weggeblasen.
Die Red-Bull-Piloten fuhren mit ihrem Rennwagen, der offenbar auf jeder Art von Piste überlegen sein kann, permanent gegen eine rote Wand, neben und auf der Rennstrecke. Sie ließen sich davon aber nur kitzeln, nicht reizen. Was für einen fortgesetzten Reifeprozess spricht. Die Vokabel "Gänsehaut", die sich vornehmlich auf die Stimmung im Autodromo Nazionale bezieht, gilt auch für die Art und Weise, wie das führende Team einen Doppelerfolg herausfahren konnte. Zehn Siege in Serie von Verstappen, 15 der britisch-österreichischen Mannschaft insgesamt kommen nicht von ungefähr - und sicher nicht nur kraft der überlegenen Maschinerie.
Verstappen teilt das rote Menschenmeer, Ferrari reitet mit vollem Risiko auf der Welle der Begeisterung
Ferrari hat sich unter dem enormen Druck des Heimspiels die Schau nicht ganz stehlen lassen. Die Scuderia hatte nach einer Saison zwischen Hoffnung und Depression alle technische Finesse auf dieses eine Wochenende konzentriert, bloß keine Schande machen. Auf eine Runde gesehen ging der Plan auf: Pole-Position für Carlos Sainz junior, Startplatz drei für Leclerc. Im Rennen, das hatte Verstappen geahnt, würden aber das Autokonzept von Red Bull und die Routine des Piloten den Ausschlag geben.
Roter Rauch - oder doch orange? Der Niederländer Max Verstappen (Mitte) sichert sich in Monza vor Teamkollege Sergio Perez (links) und Ferrari-Pilot Carlos Sainz seinen zehnten Formel-1-Sieg in Serie.
(Foto: Hasan Bratic/dpa)So gelang es dem Weltmeister dann auch, Sainz nach zäher Gegenwehr in einen Fehler zu treiben. Vorausgegangen waren mehrere Rad-an-Rad-Duelle, ganz nach dem Geschmack der Zuschauer - und sehr zum Vergnügen von Verstappen. Endlich wurden seine Talente und Instinkte mal wieder herausgefordert nach vielen Solofahrten an der Spitze. So steigerten sich er und seine Gegner bei Ferrari in einen Temporausch; vor allem der bislang meist blasse Sainz wuchs an der Aufgabe. Einer setzte den anderen in einem Wechselspiel aus Angriff und Verteidigung mächtig unter Druck, "Ah" und "Oh" wurden zu den wichtigsten Vokabeln auf den Tribünen.
Auch als der Spitzenreiter letztlich wieder einsam den Rekordbüchern entgegenfuhr, riss die Dramatik nicht ab. Erst versuchten beide Ferrari-Piloten, mit waghalsigen Manövern Sergio Perez einzubremsen, so kompromisslos wie virtuos. Echtes Racing also, das zuletzt so häufig vermisst worden war angesichts von Verstappens Alleingängen. Als der Mexikaner durch war, ging es gegeneinander munter so weiter, Sainz wie Leclerc wollten unbedingt den letzten Platz auf dem Podium ergattern, um dann hoch über der Boxengasse den Blick auf das rote Fahnen- und Menschenmeer zu genießen. Beide spürten, dass sie zumindest an diesem Wochenende den so zickigen SF-23 richtig verstanden hatten, die Fahrzeugabstimmung verlieh ihnen Zusatzpower.
Millimeter zwischen Triumph und Tragik: Kurz vor Schluss berühren sich die Ferraris von Sainz und Leclerc
Wer will da Spielverderber sein? Tatsächlich ließ Ferraris Capo Fred Vasseur am Kommandostand seinen Hasardeuren freien Lauf. Auf seinen Blutdruck dürfte sich der Freifahrtschein allerdings nicht förderlich ausgewirkt haben. Der Franzose hatte mit dem guten Qualifikationsergebnis viel für seine Jobsicherheit getan - wollte er das alles nun wirklich durch einen Crash gefährden?
Kurz vor Schluss berührten sich die beiden roten Autos dann tatsächlich - nicht auszudenken, wenn das schief gegangen wäre. Nahe am Triumph und an der Tragik zugleich, das machte dieses Hochgeschwindigkeitsrennen zu einem der besten des Jahres, zumal hinter der Spitzengruppe mit ähnlich harten Bandagen gekämpft wurde. Eine Leistungsschau der Formel 1, die beweist, dass dort tatsächlich die besten Rennfahrer der Welt unterwegs sind.
"Ich hatte gehofft, dass wir Max in einen Fehler treiben können, wenn wir ihn unter Druck setzen", erzählte Vasseur nach dem Rennen, "aber er hat leider keinen gemacht." Die Kritik an seiner Risikotaktik zum Schluss perlte am Franzosen ab. Er habe im Sinne des Sports (und wohl auch des Teamfriedens) gehandelt: "Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, fünf Runden vor dem Ende die Positionen einzufrieren. Ich vertraue meinen Fahrern und habe ihnen nur gesagt, dass sie nichts riskieren sollen." Das Limit ist eben immer nur eine gedachte Linie.