Saisonstart in Melbourne:Hamilton demaskiert die Formel 1

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"Schockiert": Lewis Hamilton in Melbourne. (Foto: dpa)
  • Die ganze Welt drückt wegen des Coronavirus auf den Alarmknopf - doch die Formel 1 plant ihren Saisonstart in Melbourne.
  • "Ich bin sehr, sehr überrascht, dass wir hier sind. Ich bin schockiert, dass wir hier alle in einem Raum sitzen", sagt Weltmeister Lewis Hamilton.
  • Die Formel 1 hat eine gewisse Routine darin, die Dinge laufen zu lassen.

Von Philipp Schneider, Melbourne

Sie haben tatsächlich eine Couch auf die Bühne geschoben. Die Couch ist in diesem Jahr neu in der Formel 1. Es gibt keine Stühle mehr bei den bedeutenden Pressekonferenzen, es gibt nur noch eine Couch. Also sitzen die Fahrer jetzt schön kuschelig nebeneinander. An diesem Tag, an dem in Melbourne kaum über Sport geredet wird und sehr viel über die Ansteckungsgefahr des neuartigen Coronavirus, von dem man nun weiß, dass er sich zu diesem Zeitpunkt schon längst eingenistet hat in einem Wirt im Fahrerlager.

Am späten Donnerstagabend australischer Zeit gibt McLaren bekannt, dass sich einer seiner Mitarbeiter infiziert hat. Und wenn McLaren nicht antritt, steht der für diesen Sonntag geplante Grand Prix in Melbourne wohl vor dem Aus. Sicher ist das noch nicht. Denn die Veranstalter haben in den vergangenen Tagen in trauter Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden alles Erdenkliche versucht, um das Rennen über die Bühne gehen zu lassen. Die Ereignisse überschlagen sich spätestens seit einer Szene auf der Couch.

Frage an Lewis Hamilton: Ob er sich gut fühlt, den weiten Weg nach Australien gereist zu sein? Und wie zufrieden er ist er mit dem Krisenmanagement des Automobilweltverbands Fia?

Och, sagt Hamilton. Die Reise habe sich gut angefühlt. Der Flug war okay. Er achte allerdings sehr darauf, nichts unnötig anzufassen. Und sich immer schön gründlich die Hände zu desinfizieren. Aber es sei schon auch so: "Ich bin sehr, sehr überrascht, dass wir hier sind. Ich bin schockiert, dass wir hier alle in einem Raum sitzen." Betretendes Schweigen in der Runde. Hamilton ist sechsmaliger Weltmeister, er kann sagen, was er denkt. Auch setzt er gerne hin und wieder mal ein Thema. Aber die Deutlichkeit der Kritik an den Veranstaltern dieses Rennens und die Detailliertheit seiner folgenden Beobachtungen legt den Schluss nahe, dass er sich gründlich überlegt hat, welche Botschaft er in der ersten großen Pressekonferenz des Jahres senden will: Es ist Irrsinn, dass die Formel 1 stattfindet.

So viele Fans seien im Albert Park an diesem Tag, sagt Hamilton. "Dabei scheint es so zu sein, dass der Rest der Welt reagiert, möglicherweise ein bisschen zu spät." Am Morgen habe US Präsident Donald Trump die Grenzen dicht gemacht vor Reisenden aus Europa, die NBA, die amerikanische Profibasketballliga pausiere - nur die Formel 1 fahre weiter.

Geld regiert die Welt, klagt Hamilton

Am Morgen habe er Jackie Stewart gesehen, "er sah gesund und fit aus", sagt Hamilton über den dreimaligen Weltmeister aus England, der noch immer so gerne Karohosen trägt. Was er meinte: Er habe einen 80-Jährigen getroffen, der zur Risikogruppe gehört und an der Covid-19 getauften Lungen-Erkrankung sterben könnte.

Als er später noch gefragt wird, ob er es okay finde, dass das Rennen am Sonntag wohl über die Bühne gehen wird, obwohl sich fünf Personen innerhalb des Fahrerlagers auf Corona hatten testen lassen, sagt Hamilton. "Cash is king", Geld regiere die Welt. Mehr könne er nicht sagen.

Musste er auch nicht. Die Formel 1, die sich am Donnerstag so vergeblich mühte in einer Pantomime des Normalzustands, sie war demaskiert. Von Lewis Hamilton, dem vielleicht wichtigsten, garantiert aber erfolgreichsten Mitarbeiter.

Donnerstagmittag, Teamchefin Claire Williams setzt sich an einen Tisch mit Mikrofonen. Einer der Journalisten hustet. Einige lachen, Williams auch. "Ich habe keine Angst, wirklich nicht", sagt sie. Schon am Vorabend waren drei Verdachtsfälle auf das Virus im Fahrerlager bekannt geworden. Zur Vorsorge wurden die Männer in häusliche Quarantäne geschickt. Am nächsten Morgen gab es zwei weitere. Beim US-Rennstall Haas waren nun vier Angestellte betroffen. Teamchef Günther Steiner zufolge handelt es sich um einen Ingenieur und drei Mechaniker. Bis er das Ergebnis der Tests vorliegen habe, sagte Steiner am Mittwoch, würden fünf Tage vergehen. Das habe ihm jemand erzählt. Fünf Tage? In München gibt es inzwischen Drive-in-Schalter für kontaktlose Schnelltests. Fünf Tage wartet man da sicher nicht auf das Ergebnis. Fünf Tage später wäre das Rennen seit einem Tag vorbei gewesen.

Dass es solange dann doch nicht dauert, beweist erst der positive Test bei McLaren. Und der lobenswerte transparente und konsequente Vorstoß des Teams: Der Mitarbeiter habe "sich in Isolation begeben, sobald klar war, dass er sich nicht wohlfühlte. Er wird nun weiter behandelt, in Quarantäne", teilte McLaren mit. Das Team habe die Formel-1-Führung und den Verband Fia davon in Kenntnis gesetzt, dass sie an der Veranstaltung nicht länger teilnehmen werden. "Die Entscheidung wurde aus einem Gefühl der Vorsorge nicht nur für die Angestellten von McLaren getroffen, sondern auch für die Wettbewerber, die Formel-1-Fans und die Anteilseigner der Formel 1", hieß es in der Mitteilung.

Was nun passieren müsste, das hat Brett Sutton, der leitende Arzt des australischen Bundesstaates Victoria vor dem positiven Fall mitgeteilt. Im Radio sagte er: "Sollte sich herausstellen, dass Menschen am Coronavirus erkrankt sind und waren sie in engem Kontakt mit anderen Personen, dann müssen all diese Menschen in Quarantäne." Ist einer erkrankt, sind alle anderen potenziell auch erkrankt. Das Fahrerlager ist ein exklusiver Kreis mit engem Austausch. Das Coronavirus springt hier im Fall der Fälle lässig von Wirt zu Wirt wie Dong Dong, der chinesische Trampolinspringer, auf seinem Sportgerät. Anfang März hatte Ross Brawn, Sportchef der Formel 1, erklärt: "Wenn einem Team die Einreise in ein Land verwehrt wird, dann können wir kein Rennen fahren. Kein Formel-1-WM-Rennen, nirgendwo, denn das wäre unfair."

Nun befindet sich McLaren allerdings schon im Land, Brawn hatte aber auch gesagt: "Wenn ein Team aus freien Stücken nicht zu einem Rennen fährt, dann ist das natürlich dessen Entscheidung." Jetzt hat ein Team aus der Not seine Teilnahme zurückgezogen und sich vorbildlich verhalten. McLaren gegenüber fair wäre einzig eine Absage. Dies alles geschieht, während anderswo reihenweise und prophylaktisch nicht lebensnotwendige Veranstaltungen abgesagt werden, die WHO die Verbreitung des Virus offiziell zur Pandemie erklärt und tausende Bürger in Victoria eine Petition einreichen, den Grand Prix ausfallen zu lassen, um die Verbreitungsketten zu unterbrechen. Die ganze Welt drückt auf den Alarmknopf. Aber die Formel 1 hat ja eine gewisse Routine darin, die Dinge laufen zu lassen.

Am Donnerstag vor dem Rennen kommen traditionell viele Schulklassen zur Rennstrecke in den Albert Park. So auch in diesem Jahr. Morgens um neun Uhr laufen die Grundschülerinnen und Schüler der Canterbury Primary, die sich zum Schutz vor der Sonne ausladende Hüte aufgezogen haben, wie eine Herde kleiner Büffel um eine der "Hand Sanatizer Stations" die vom Veranstalter überall im Albert Park errichtet wurden. An den Seiten hängen zwei Spender mit Sterilisationsmitteln auf Erwachsenenhöhe, zwei auf Kinderhöhe. Schlangen bilden sich nicht davor. Ganz anders als vor dem Stand "El Camino", wo es Tackos gibt. Oder vor der Merchandising-Bude, wo sich T-Shirts mit dem Pferdchen von Ferrari erwerben lassen. Gefühlt sind es nicht so viele Zuschauer wie in den Jahren zuvor. Aber voll ist es schon.

In Bahrain soll es kommende Woche Sonntag das erste Geisterrennen der Geschichte geben. Ob danach in Vietnam gefahren werden kann, ist fraglich: Reisende aus Italien müssen dort für 14 Tage in Quarantäne. Hat die Formel 1 einen Plan, falls eine ganze Weile Rennen ausfallen?

"Wir haben einen Notfallplan für uns, sollte es einen Fall bei uns geben. Wir müssen sicherstellen, dass wir unser Business schützen", sagt Williams. Das Business, darum geht es. Deshalb ist auch die größte Sorge der Teams, dass das Virus in die Zentralen nach Europa getragen wird. "Wenn wir unsere Factory runterfahren müssen, das wäre unglaublich schwierig", sagt Williams. "Was passiert, wenn wir einige Rennen nicht fahren? Was geschieht dann mit dem Preisgeld?" Cash is king.

Kimi Räikkönen, der dienstälteste Pilot der Formel 1, dessen Karriere vor 19 Jahren in Melbourne begann, setzt sich am Nachmittag vor die Garage seines Sauber-Teams. Er verschränkt die Arme, seine Augen sieht man nicht, die riesige Sonnenbrille spiegelt zu sehr. Seine Worte aber sind umso klarer. "Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass wir hier sind. Vermutlich nicht. Wenn es eine Entscheidung der Teams gäbe, wären wir wohl nicht hier."

© SZ vom 13.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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