Irgendwann war es so weit, da wusste auch Jerome Valcke nicht mehr weiter. Der Generalsekretär des Weltverbandes Fifa hatte nach der Sondersitzung des International Football Association Board (IFAB) mitgeteilt, dass im Profifußball die Torlinien-Technologie zum Einsatz kommen und erstmals bei der Klub-WM im Dezember in Tokio erprobt werden soll. Zugleich gestattet das Regel-Board IFAB aber auch weiter den Einsatz von Torrichtern, die ja bei der EM in Polen und der Ukraine wiederholt deftig daneben lagen.
Und schließlich ließ das Gremium offen, welches technische System die Torlinie künftig überwachen soll - das im Tennis verwendete Kamera-Auge Hawk-Eye oder der Chip im Ball, das GoalRef-System? Befragt, ob bei der Klub-WM in Japan zum Jahresende neben den beiden Torlinien-Systemen auch die zusätzlichen Torrichter eingesetzt werden, streckte Valcke entnervt die Waffen: "Keine Ahnung!" Beim Kneten der Hände fiel ihm ein, dass das wohl noch besprochen werde müsse.
Eine ganze Menge bleibt noch zu besprechen nach diesem als "historisch" gefeierten Tag. Dass es keiner war, zeigte schon die Abwesenheit des IFAB-Vorsitzenden: Sepp Blatter, der Boss des Fußball-Weltverbandes Fifa, ist ja für vieles bekannt, nur nicht dafür, dass er auf persönliche Präsenz bei einem geschichtsträchtigen Anlass gern verzichtet.
Platini und der Makel
Am Donnerstagabend im Zürcher Hauptquartier aber war Distanz zum Geschehen geboten. Brachte die Interpretation des dort soeben Beschlossenen schon seinen Generalsekretär arg ins Trudeln, wäre Blatter selbst zudem Gefahr gelaufen, auf peinliche Grundsatzfragen wie diese zu stoßen: Warum hat er ein Jahrzehnt lang das verhindert, was jetzt - im Grundsatz - beschlossen wurde? Fortan wird also bei großen Fifa-Turnieren mit zwei Torlinien-Systemen experimentiert, von denen eines, das Knowhow des Kamera-Auges, jüngst von Sony gekauft wurde - das Unternehmen ist zufällig ein Fifa-Topsponsor.
Daneben toleriert das internationale Regel-Board aber auch weiter die wackeren Torrichter, die dem Uefa-Präsidenten Michel Platini so sehr ans Herz gewachsen sind. Platini, ein glühender Verfechter des "menschlichen Makels", glaubt weiterhin felsenfest daran, dass groteske Fehlentscheidungen, die von Millionen zornigen Menschen mühelos erkannt werden können, nur nicht von den Schiedsrichtern, das Salz im Süppchen des Fußballs sind.
Aufschlussreicher als das Beschlossene ist indes der Themenkreis, der nicht angerührt wurde. "Die Frage des Einsatzes von Technologie im Fußball über die Torlinie hinaus stellte sich nicht und ist auch in Zukunft kein Thema", betonten Valcke und die Vertreter der neben der Fifa im IFAB versammelten Verbände von England, Irland, Schottland und Wales.
Nimmt man hinzu, dass interessanterweise auch die Torlinientechnologie so funktionieren soll, dass "nur der Schiedsrichter, nicht aber das Publikum" (Englands FA-Generalsekretär Alex Horne) das entscheidende Signal erhält, stehen plötzlich quälende Erkenntnisse im Raum. Transparente Entscheidungen sollen trotz (oder gerade wegen?) des Einsatzes neuer, unbestechlicher Hilfsmittel den Zuschauern nicht geliefert werden; andere Sportarten von Tennis über Eishockey bis Kricket haben mit dieser Offenheit kein Problem.
Umstrittene Tore der Fußball-Geschichte:Immer wieder Wembley
Geoff Hurst, Thomas Helmer, Stefan Kießling und nun Mats Hummels: Die Liste umstrittener oder nicht gegebener Treffer ist lang - und sie wird immer länger. Seit Jahrzehnten kommt es im Fußball bei der Frage "Tor oder nicht Tor?" zu eklatanten Fehlentscheidungen.
Umso eigenartiger, dass dem Referee nicht einmal zwingend auferlegt wird, das Signal zu berücksichtigen: Er kann es tun, er muss es nicht. Das gewährleistet stürmische Debatten, sobald die TV-Bilder etwas zeigen sollten, das sich nicht mit der Entscheidung des Schiedsrichters deckt.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Fußball, der angeblich ja vehement und mit allen Mitteln gegen seine größte Bedrohung ankämpft, die Wett- und Spielmanipulation, mit so einer geheimniskrämerischen Kann-Regelung kein überzeugendes Zeichen setzt. Match-Fixer beispielsweise, wie sie zuletzt in Italiens und sehr wahrscheinlich auch in Spaniens oberster Liga zugange waren, können mit solchen alibihaften Neuerungen gut leben: Der Referee darf trotz Technologie weiter daneben liegen.
Die Bundesliga muss warten
Umso befremdlicher, dass Fifa und IFAB einmütig jede weiterreichende Überwachungstechnik scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Gemessen an den ja verschwindend geringen Streitfällen um die Frage, ob der Ball auf oder hinter der Torlinie gelandet ist, bleibt das tatsächliche Überangebot an Fehler- und Manipulationsquellen im frommen Fußballgeschäft völlig unangetastet: Abseits, Foul- oder Handspiele liegen weiterhin ganz im Auge des Betrachters - und das ist der mit der Trillerpfeife.
Der deutsche Fußball reagierte am Donnerstagabend indifferent. Einerseits gelten DFB-Chef Wolfgang Niersbach und Ligapräsident Reinhard Rauball als Freunde der Technik, andererseits lässt die Klärung der Finanzierungsfragen rund um den teuren Spaß zu wünschen übrig: die Kosten soll jeder selbst tragen, findet die Fifa. "Der Ball liegt nun beim DFB", murmelte Valcke auf die Frage, ob er schon bald mit dieser Innovation auch in der Bundesliga rechne.
Eine Ausstattung aller Arenen mit den bis zu 250.000 Dollar teuren Systemen vor der Saison 2013/14 sei ausgeschlossen, stellte Niersbach klar. Er fand, dass es richtig sei, die Neuerung zunächst ganz "auf die großen Fifa-Turniere" zu konzentrieren. Historischer Jubel hat sich noch nicht eingestellt.