Das Wörtchen "ausgerechnet" steht in der Fußball-Berichterstattung inzwischen auf dem Index, es ist viel zu inflationär verwendet worden in den vergangenen Jahren. "Ausgerechnet!" ruft es von überall her, wenn ein Trainer mit seinem neuen Verein seinen alten Verein besiegt oder wenn ein Spieler ein Tor gegen seinen ehemaligen Klub erzielt und dann aus Respekt nicht jubelt.
"Ausgerechnet" ist nicht mehr besonders originell als Kategorie, das Wort ist viel zu hohl geworden, um noch etwas auszusagen - es sei denn natürlich, ein Hauptdarsteller gibt dieses Wort selbst in Auftrag. "Mehr ausgerechnet geht eigentlich nicht", sagte also Sven Ulreich nach dem Spiel in Stuttgart, und man konnte nicht anders: Man musste ihm Recht geben.
Höchstpunktzahl für Ulreich
Ausgerechnet Ulreich, der Mann, der sonst wegen Manuel Neuer nie spielt. Ausgerechnet in Stuttgart, jener Stadt, aus der er stammt, ausgerechnet gegen den VfB, jenen Verein, für den er "17 Jahre die Knochen hingehalten" hat, wie er später sagte. Und dann auch noch ausgerechnet vor der Cannstatter Kurve, jenem heiligen Stadioneck, in dem die treuesten, aber eben auch strengsten VfB-Fans stehen. Die Stuttgarter Ultras hatten den bekennenden Schwaben während des gesamten Spiels ausgepfiffen und angepöbelt, und zur Strafe verhängte ein anonymes Schnellgericht dann jenen Elfmeter in der Nachspielzeit, den Ulreich vor den Augen der Ultras parieren durfte - womit er dem leidenschaftlichen VfB samt seinen allzu leidenschaftlichen Kurvenfundamentalisten den Jahresabschluss gründlich verdarb.
Ausgerechnet Ulreich? Ja, auch diese Ironie passte: Beim VfB hatte Ulreich selbst zu besten Zeiten den Ruf, vieles zu können, aber eines ganz bestimmt nicht: Elfmeter zu halten.
Gäbe es eine Torhüter-Einzeltabelle, dann hätte der junge Mann aus dem schwäbischen Schorndorf an diesem Tag mit Sicherheit die Höchstpunktzahl überwiesen bekommen. Nicht nur, dass er seinen Bayern den Sieg und seinem VfB eine Niederlage bescherte: Er widerstand hinterher auch der bestimmt sehr machtvollen Versuchung, der übelwollenden Kurve ein paar Grüße rüberzuschicken.
Genugtuung? Ach nein, meinte Ulreich, man freue sich einfach, wenn man seiner Mannschaft den Sieg sichern konnte. Ulreich hat immer wieder "man" gesagt an diesem Abend, einerseits aus Gründen jener demonstrativen Bescheidenheit, die immer gut ankommt in der Öffentlichkeit; andererseits aber schon auch, weil er sonst vielleicht wirklich durcheinander gekommen wäre mit seinen Emotionen. Er ist halt doch ein Stuttgarter Bub - und wie lange er noch ein Bayer sein wird, ist nach so einem Nachmittag fraglicher denn je.
Sven Ulreich, 29, war ja nicht umständehalber zum Tageshelden geworden. Er hatte nicht einfach zufällig einen - schlecht geschossenen - Elfmeter gehalten und ansonsten nichts zum Sieg beigetragen. Ulreich hatte, wie eigentlich immer in den vergangenen Wochen, auch dann ausgezeichnet gehalten, wenn es gerade keinen Elfmeter gab. Schon als er Holger Badstubers Kopfball in der 88. Minute über die Latte lenkte, bahnte sich - ebenfalls vor der Cannstatter Kurve - ein kleines Ausgerechnet-Geschichtlein an, aber auch diese Parade hatte sich nur in den gesamten Spielverlauf eingefügt. Jupp Heynckes wies später in der Pressekonferenz darauf hin, dass sein Torwart bereits in der siebten Minute bei einem Stuttgarter Schlenzer sehr ansehnlich tätig geworden war. Dieser Schlenzer war übrigens von Chadrac Akolo gekommen, jenem jungen Flügelspieler, der später auch den Elfmeter verschießen sollte. Ausgerechnet?
Später, als die Fernsehkameras aus waren, hat Sven Ulreich dann ein paar klarere Worte gefunden, er fand es "traurig und schade, wenn man von ehemaligen Fans so ausgepfiffen wird". Aber es gehöre anscheinend zum modernen Fußball, "dass man so mit ehemaligen Spielern umgeht", sagte er noch. Doch ein kleiner Gruß an jene Orthodoxengemeinde hinter ihm, die ihn zu seiner VfB-Zeit noch mit "Ulle, Ulle"-Chören gefeiert hatte. Sven Ulreich, auch das gehört ja zur Wahrheit, hat den VfB damals nicht freiwillig verlassen. Als es mit dem gesamten Klub ein wenig abwärts ging, hat auch er in seinem Tor ein bisschen zu wackeln angefangen - bis ihm die damalige sportliche Leitung um Manager Robin Dutt eine Art Misstrauensvotum überbrachte.
Viele haben anschließend den Kopf geschüttelt, als Ulreich sich für die Planstelle hinter Manuel Neuer entschied. Klar, er werde dort in vier Jahren fünfmal Meister oder so - aber könne es einen jungen, kraftstrotzenden wirklich ausfüllen, sich nur im Training und bei Meisterfeiern zu verausgaben? Von vergoldeter Frührente war die Rede - und nun kann sich der vermeintliche Rentner auf einmal seine Zukunft aussuchen. Es gebe "noch keine Tendenz", was er im Sommer mache, sagte Ulreich am Samstagabend. Er findet, dass er sich nun ruhig ein bisschen bitten lassen darf, so wie unter der Woche schon von Heynckes, der die Bayern-Bosse öffentlich aufgefordert hatte, Ulreichs auslaufenden Vertrag zu verlängern.
Ulreich weiß: Nach Spielen wie in Stuttgart steigt sein Marktwert dramatisch an, "und es ist natürlich schon schwierig, wieder auf die Bank zurückzukehren, wenn man so viele Wochen gespielt hat wie ich jetzt". Bei Bayern, das weiß er und das akzeptiert er auch, muss er in jenem Moment auf die Bank zurück, in dem Manuel Neuer wieder in sein Tor heimkehrt.
Gut möglich, dass man Ulreich in der neuen Saison also wieder als Nummer eins in einem Bundesliga-Tor erlebt, allerdings eher nicht beim VfB Stuttgart. Dort hält Ron-Robert Zieler so gut, dass es keinen Bedarf an einem neuen Torwart gibt. Ulreich zurück zum VfB: Nein, das wäre dann doch zu viel "ausgerechnet" gewesen.