FC Bayern in der Bundesliga:Zurück im Monster-Modus

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Robert Lewandowski feiert mit Serge Gnabry. (Foto: Peter Schatz/Imago)

Pünktlich zum Start der entscheidenden Saisonphase zeigen die Bayern wieder den Charakter, der sie vor einem Jahr zu allen Titeln trug. Besonders Robert Lewandowski und Thomas Müller ziehen die Elf von vorne.

Von Christof Kneer, München

Ist Fußball Mathematik? Das ist eine so gute Frage, dass sie es längst ins Geschichtsbuch geschafft hat. Der Trainer Ottmar Hitzfeld, ein studierter Mathematiker, und der Funktionär Karl-Heinz Rummenigge, kein studierter Mathematiker, haben sich über dieser Frage mal entzweit. Anderthalb Jahrzehnte später hat sich nun ein weiterer studierter Mathematiker, Stuttgarts Trainer Pellegrino Matarazzo, an die komplexe Thematik herangewagt und eine Aufsehen erregende Theorie aufgestellt. Die Bayern hätten ihren Qualitätsvorsprung in den direkten Duellen ausgespielt, sagte Matarazzo, und jetzt kommt's: Selbst in Überzahl sei man gegen diese Bayern "eigentlich nicht in Überzahl", sagte Matarazzo, "weil wenn die ein Eins-gegen-Eins-Duell gewinnen, ist es eigentlich Gleichzahl".

Die Bayern haben keine leichten Wochen hinter sich, jedenfalls gemessen am Anspruch einer Mannschaft, die sich für unschlagbar hält und es meistens auch ist. Sie sind im Schneesturm in Kiel aus dem Pokal geflogen, sie haben im Schneesturm unentschieden gegen Bielefeld gespielt, sie haben ohne Schneesturm in Frankfurt verloren. Aber spätestens nach diesem 4:0 gegen den VfB Stuttgart beschleicht die Branche dieser spezielle Verdacht: dass nun, da sich die entscheidenden Wochen der Saison nähern, wieder der alte Jagdinstinkt in diesen Bayern wach wird.

FC Bayern in der Einzelkritik
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Robert Lewandowski macht einen Hattrick in Unterzahl, Thomas Müller arbeitet für mehrere Positionen und Alphonso Davies gibt dem Spiel unbeabsichtigt die entscheidende Richtung. Der FC Bayern in der Einzelkritik.

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Nach diesem in 78-minütiger Unterzahl errungenen Sieg wirken die Münchner schon wieder so bedrohlich, dass den Gegnern nichts anderes übrig bleibt, als sich dieses Phänomen schön zu rechnen. Und Matarazzo hatte ja Recht: Wenn sich die Münchner zu dritt oder viert in verbotswidrigem Tempo auf den Strafraum zu kombinieren, ist es einigermaßen wurstegal, ob sie links hinten einer weniger sind. Wenn die Bayern so sehr wollen wie gegen den VfB, sind sie auch zu zehnt zu elft.

Es gibt immer wieder Wendepunkte in einer Saison, manchmal erkennt man diese Marken erst hinterher. Das Triple werden die Münchner in dieser Spielzeit aus einleuchtenden Gründen nicht gewinnen (siehe auch unter "K" wie Kiel), aber sollten sie im Mai auf den ein oder anderen Erfolg zurückblicken, werden sie sich gewiss an den März erinnern: an das Wendemanöver gegen Dortmund, das aus einem 0:2 erst ein 2:2 und in den Schlussminuten ein 4:2 machte; und an das Spiel gegen den VfB Stuttgart, in dem ihnen schon nach zwölf Minuten der Linksverteidiger Alphonso Davies mit einer roten Karte abhandenkam.

Davies' Platzverweis setzt Kräfte frei - beim FC Bayern

"Berechtigt" nannte Trainer Hansi Flick den Eingriff des Video-Referees, der Schiedsrichter Schlager ermuntert hatte, Davies' groben Tritt auf den Knöchel des Stuttgarters Endo nochmal auf dem Bildschirm zu besichtigen; aber Flick hatte natürlich auch leicht reden. Er kannte die Pointe schon. Die Pointe war, dass der Platzverweis das Spiel veränderte, aber anders, als Platzverweise Spiele sonst verändern. "Challenge accepted" leuchtete es plötzlich knallrot auf allen Bayern-Trikots und auch auf den Stirnen der Spieler, während die Stuttgarter in eine Identitätskrise stürzten, die kurz, aber lang genug war.

Alphonso Davies sagt nach seiner roten Karte Trainer Flick Adieu - die Bayern gewinnen trotzdem. (Foto: Matthias Balk/Reuters)

Sie waren vorübergehend so verwirrt, dass die Bayern in fünf Minuten drei Tore schossen, zweimal durch Robert Lewandowski (18., 22.) und einmal durch Serge Gnabry, der der Versuchung widerstand, dem doppelten Doppelpass von Thomas Müller und Leroy Sané einfach nur mit offenem Mund zuzuschauen. Er wusste, dass er vorher noch etwas zu erledigen hatte. Er blieb konzentriert und schob den Ball ins Tor.

Der Platzverweis genügte, um zu demonstrieren, dass hier zwei Mannschaften Fußball spielten, die aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt kommen. Die Bayern waren kürzlich noch in Lissabon, beim Champions-League-Finale, wo sie - falls das stimmen kann - mit 8:2 gegen den FC Barcelona gewannen; die Stuttgarter waren im vergangenen Jahr noch in Wehen-Wiesbaden, wo sie verloren, oder in Osnabrück, wo sie auch verloren. Auch in Kiel haben sie verloren, und es gab nicht mal einen Schneesturm.

Beim aktuellen VfB handelt es sich um eine hoch veranlagte, vom Sportchef Sven Mislintat versiert gecastete Elf, die sich in der ersten Liga deutlich heimischer fühlt als in der zweiten; aber dieser FC Bayern war zu viel für sie. Bei den Bayern waren mehr internationale Spiele auf dem Platz, als in eine Datenbank passen, beim VfB debütierte im zentralen Mittelfeld der 18-jährige Franzose Naouirou Ahamada, der zwar die meisten Vokale im Vornamen, aber auch die geringstmögliche Erfahrung im Männerfußball aufweist.

Eine Überzahl ist keine Überzahl, wenn sich Robert Lewandowski wie hier ständig gegen zwei Stuttgarter durchsetzt. (Foto: Robin Rudel/Imago)

Selbst der Mathematiker Matarazzo hat hinterher keine Formel gefunden, mit der er den Einbruch seiner Elf erklären konnte, er schwankte zwischen zwei konkurrierenden Modellen. Nach der roten Karte sei mit seiner Mannschaft "mental etwas passiert", meinte er, "entweder die Mannschaft hat zu viel Druck gespürt und gemeint, sie müsste jetzt gewinnen; oder sie hat gedacht, dass wird jetzt ein Selbstläufer. Beides ist nicht gut."

Müller übertreibt es zuweilen sogar mit dem Vorwärtsverteidigen

Womöglich ist der VfB ein Sonderfall, die Diskrepanz zwischen Begabung und Routine macht die Elf auf diesem Niveau noch etwas störanfällig. Aber die Münchner scheinen auf dem besten Weg zu sein, demnächst auch wieder anderen Teams Angst einjagen zu können. Gegen Stuttgart hat man besonders anschaulich verfolgen können, was für eine besondere Mannschaft das ist: Nicht nur, dass Robert Lewandowski mitspielt, ein Stürmer, der es schafft, immer noch besser zu werden, obwohl er schon am besten ist; das Interessanteste an dieser Elf ist, wie sehr sie sich von vorne definiert. Vorne stehen nicht nur die Abwickler, die kaltblütig verwerten, was man ihnen anschleppt.

Vorne endet bei dieser Mannschaft nichts, vorne fängt es an. Robert Lewandowski und Thomas Müller sind das Gegenteil von Rosinenpickern, sie beginnen schon ganz vorne, der eigenen und der gegnerischen Elf ihren brachialen Siegeswillen aufzuzwingen. Müller hat wieder jeden Spielzug kommentiert und jeden Pressingmoment angesagt, er hat es fast ein bisschen übertrieben mit seiner vorwärtsdrängenden Art. Er war nicht zu bremsen.

So wie die Bayern in der ersten Halbzeit der Unterzahl begegneten, erinnern sie schon wieder an das Monster, das Hansi Flick vor einem Jahr erschaffen hat. Viele im normalen Leben sehr wohlerzogene Burschen haben auf dem Rasen den bösen Blick.

Fünf Tore fehlen Robert Lewandowski nur noch zum vermeintlich ewigen Gerd-Müller-Rekord von 40 Saisontoren, er hat noch acht Spieltage Zeit dafür. Sollte er es schaffen, müsste er am Ende auch dem Kollegen Davies danken und diesem wirklich wunderbaren Platzverweis.

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