FC Bayern:Eine Grätsche ändert alles

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Gideon Jung grätscht Kingsley Coman in die Beine und sieht dafür Rot. (Foto: Christophe Gateau/dpa)
  • Bis zur roten Karte von Gideon Jung liefert der HSV ein beachtliches Spiel gegen den FC Bayern.
  • Die Münchner mühen sich auch danach zu einem 1:0. Trainer Jupp Heynckes findet viele Fehler im Spiel.
  • Thomas Müller muss kurz nach seiner Einwechslung verletzt raus. Er wird in München untersucht.

Von Claudio Catuogno, Hamburg

Jupp Heynckes hat sich dann recht schnell wieder unter sein Glasdach gesetzt. Erst mal durchatmen. Auch alle anderen saßen wieder. Nur Markus Gisdol tigerte noch durch seine Coaching-Zone, rüber an die Mittellinie, zum vierten Offiziellen, noch mal schimpfen, noch mal gestikulieren, noch mal sein Unverständnis rausschreien, dann wieder zurück. Es lief jetzt die 43. Spielminute, gleich Halbzeit also, alles sah wieder so aus wie vorher im Hamburger Volksparkstadion - das gerade für ein paar Minuten ein Ort des Volkszorns und der Empörung gewesen war. Nur einer fehlte nun auf dem Rasen: der Hamburger Mittelfeldspieler Gideon Jung, 23.

Als hätte man ihnen eine Kiste Giftspinnen über die Köpfe gekippt, so waren kurz zuvor alle Münchner gleichzeitig aufgesprungen, Ersatzspieler, Medizinabteilung und auch der ja bekanntlich 72-jährige Trainer Jupp Heynckes. Nicht weit von ihnen entfernt war Kingsley Coman bei einem Konter Richtung HSV-Tor unterwegs gewesen (39.), von schräg hinten kam Gideon Jung angeschossen, platzierte eine Grätsche, verfehlte den Ball, traf den Knöchel. Coman krümmte sich auf dem Rasen, überall gingen sich Bayern und Hamburger fast an die Gurgel, von den Rängen kam der gellende Soundtrack zur bösen Stimmung.

Heynckes konnte nicht zufrieden sein

Und dann hüpften plötzlich auch der HSV-Coach Gisdol und seine Entourage auf, als hätte man neben ihnen ein Fass mit sehr unsympathischen Würgeschlangen neben ihren Sitzen geöffnet. Marco Fritz, der Schiedsrichter, hatte in seine Brusttasche gegriffen - und Jung die rote Karte präsentiert. Eine ebenso "harte" wie "vertretbare" Entscheidung, das sagte später sogar Gideon Jung selbst. Und vor allem wohl: eine spielentscheidende.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das nämlich eine in vielerlei Hinsicht erstaunliche Partie gewesen zwischen dem HSV und den Bayern. Eine, die ein paar landläufige Meinungen über die beiden beteiligten Mannschaften vorerst widerlegt hatte. Zum Beispiel jene, wonach man den Münchner Bayern bloß wieder ihren geliebten Triple-Jupp an die Seite stellen musste, und schon sprühen sie wieder vor Spielfreude und Selbstgewissheit. Eher das Gegenteil war der Fall gewesen bis zur roten Karte kurz vor der Pause. "Zu behäbig", "Spieltempo nicht hoch", "Pässe nicht präzise" - Heynckes konnte nicht zufrieden sein.

Aber auch jene böse Vorahnung, wonach der Hamburger SV ja vermutlich wieder eine deftige Klatsche kassieren würde gegen seinen Angstgegner aus dem Süden, hatte sich nicht erfüllt. Nichts erinnerte heute an jene Unglücksserie gegen die Bayern in den letzten Jahren - 0:6 (2011), 2:9 (2013), 0:8 (2015), nochmal 0:8 (2017). Der Gisdol-Elf war vielmehr ein sehr beachtlicher Auftritt gelungen. Mit anfangs mehr gewonnenen als verlorenen Zweikämpfen. Mit einer kollektiven Abwehrarbeit, die bei den eigenen Stürmern begann, welche ständig den Münchner Innenverteidigern auf den Füßen herumstanden und ihnen das Aufbauspiel erschwerten. Und mit einer engmaschigen Dreierkette, die sich in der Rückwärtsbewegung zur Fünferkette weiter verdichtete. Arjen Robben hatte zwei Halbchancen in der 13. und 21. Minute, die erste wurde abgeblockt, die zweite landete im Außennetz. Sehr viel mehr war da nicht.

Aber nun hatte eine doofe Grätsche alles auf den Kopf gestellt.

Denn zu zehnt half den Hamburgern am Ende alle Courage nicht, 1:0 (0:0) gewannen die Bayern durch einen Treffer von Corentin Tolisso in der 52. Minute. David Alaba hatte geflankt, der gerade eingewechselte Thomas Müller hatte auf engstem Raum vorgelegt - und Tolisso musste nur noch einschießen.

Um Borussia Dortmund wieder von der Tabellenspitze zu vertreiben, hätten die Münchner allerdings noch drei Tore mehr schießen müssen. So bleiben sie vorerst punktgleich mit dem BVB auf Rang zwei. Und sie haben vor den zwei wegweisenden Spielen gegen Leipzig am Mittwoch (im DFB-Pokal) und Samstag (in der Liga) die Gewissheit, dass ihr Trainer definitiv recht hat, wenn er sich jeder aufkeimenden Selbstgewissheit konsequent verweigert. Es ist noch viel zu tun.

Allerdings hatte Heynckes diesmal auch eine völlig andere Mannschaft auf den Platz geschickt als in den beiden ersten Spielen seit seiner Rückkehr. Während Heynckes zunächst so weit wie möglich jenen Spielern vertraut hatte, mit denen er 2013 das Triple gewann, plus Hummels, plus Lewandowski, schüttelte er seine Aufstellung nun kräftig durch - James Rodríguez, Corentin Tolisso, Arturo Vidal, Rafinha und Niklas Süle standen in der Startelf. "Gestandene Nationalspieler", betonte Heynckes - aber halt doch auch eine Zusammenstellung, der "noch die Harmonie" fehlte.

Nach der Halbzeitpause brachte Heynckes dann zunächst Müller für Rodríguez; keine zehn Minuten später musste der Angreifer aber schon wieder raus: Muskelverletzung im Oberschenkel. Hoffentlich nichts Ernstes, sagte Heynckes. Am Sonntag soll Müller genauer untersucht werden.

Erst gegen Ende der Partie hatten die Münchner dann ihre Chancen: Thiago, ebenfalls eingewechselt, schoss an den Innenpfosten (71.). Robben scheiterte nach Doppelpass mit Robert Lewandowski am HSV-Torhüter Christian Mathenia (82.). Und dann noch mal Pfosten: nach einem Kopfball von Tolisso (83.)

Aber was ist das wert, gegen zehn müde Hamburger? Nun, sagte Heynckes, nach einer roten Karte könne man sich halt "nicht dagegen wehren, dass man numerisch in der Überzahl ist. Und dann muss man das auch ausnutzen." Das hat der FC Bayern im Hamburg getan, nicht weniger, aber auch nicht sehr viel mehr.

© SZ vom 22.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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