FC Augsburg vor dem Bayern-Spiel:Helmut Hallers bescheidene Erben

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Als schwächster Aufsteiger seit Tebe Berlin wird der FC Augsburg belächelt. Doch der kleine Klub, bei dem einst Helmut Haller spielte, kann gut damit leben, dass er sich für seine Verhältnisse zu schnell entwickelt hat. Am Sonntagabend kommt der große FC Bayern - es ist die Partie, auf die alle Augsburger gewartet haben.

Andreas Burkert

Es müffelt nicht, die Luft ist in Ordnung. Doch das Interieur ist erstaunlich. Auf harten Holzbänken wird sich hier umgezogen, diese Bänke stammen aus einer anderen Zeit, wie der gesamte, in ein verwittertes Grau getauchte Zweckbau an der Donauwörther Straße. Wäre dies die Umkleide einer Schule, würde sich wohl der Elternbeirat empört bei der Stadt beschweren.

Einst in Augsburg: Helmut Haller (rechts) mit Hans Jörg vom FC Bayern. (Foto: DPA)

Aber hier treiben keine Schüler Sport, sondern Fußballprofis, die Spieler des Bundesliga-Aufsteigers FC Augsburg. Geschäftsführer Andreas Rettig ist nicht stolz auf die Keimzelle seines Vereins, das wäre das falsche Wort, aber er führt doch ziemlich ungeniert durch den morbiden Charme der Paul-Renz-Anlage.

Seine nur zehn Mitarbeiter drängeln sich in der rekordverdächtig beengten Geschäftsstelle, und drüben, im Kabinenanbau, stapelt Waschfrau Marlene auf 70er-Jahre-Sofas die Trikots und Hosen der Profis. Rettig, 48, schließt alle Türen auf, auch die zum Hof, dort steckt eine Stahlwanne im Steinboden. Als Kältebecken für Profibeine. Unter freiem Himmel. Ohne Handlauf und Fußmatte.

Auf das Skurrilste treffen derzeit beim FCA die Vergangenheit und die Gegenwart aufeinander. Aber das einzige Problem, das dieser ungewöhnliche Neuling damit hat, ist wohl, dass dies nun alles ein wenig schnell zusammenzufügen ist.

Augsburg und Fußball, das waren bisher Schwarz-Weiß-Bilder. Fotos von Helmut Haller natürlich, der 1966 im WM-Finale von Wembley das 1:0 für die Deutschen erzielte, der '62 nach Italien ging: sechs Jahre FC Bologna, dann fünf bei Juventus Turin. 1964, nach der ersten Meisterschaft mit Bologna, hat Italien il Biondo, den blonden Stürmer, als ersten Ausländer zum Fußballer des Jahres gekürt.

Das Jetzt in Augsburg bestimmen Euphorie und Abstiegskampf. Am Sonntag kommt der FC Bayern, zum ersten Erstliga-Derby beider Klubs überhaupt. "Das ist das Spiel, auf das hier alle gewartet haben", sagt Rettig. Und ungleicher sind die Kräfteverhältnisse in der Liga selten gewesen; nicht nur, weil nach dem operierten Torwart Simon Jentzsch und Uwe Möhrle kurzfristig auch Dauerläufer Axel Bellinghausen (Knie-OP) fehlt.

Als schwächster Aufsteiger seit TeBe Berlin in den 70ern wird man belächelt. Das ärgert sie schon in Bayerisch-Schwaben, obwohl sie dort einen Minderwertigkeitskomplex kultiviert haben, vor allem gegenüber der Landeshauptstadt München. Der Rheinländer Rettig arbeitet seit 2006 beim FCA, er sagt: "Das hier ist eine tolle Wirtschaftsregion. Aber Augsburg macht sich oft selber klein."

23 Jahre war Augsburg nicht mehr im Profifußball dabei, ehe 2006 die Rückkehr in die zweite Liga gelang. Wie zuletzt '73/'74, als der 35-jährige Rückkehrer Haller den Nachfolgeverein seines Ballspiel-Clubs Augsburg zum Titel in der Regionalliga Süd führte. Aber dann dümpelte die sportliche Heimat von Bernd Schuster, der Vehs, Aumanns und Grahammers nur noch im Niemandsland, trotz einer guten Jugendarbeit und dem enormen Einzugsgebiet: Bayernliga, und nach dem Lizenzentzug 2000 sogar nur noch vierte Klasse.

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Just an diesem Tiefpunkt tauchte Walther Seinsch auf, und der hat Wort gehalten, obwohl sie ihn für verrückt hielten. In die Bundesliga wolle er, hatte der vermögende Unternehmer versichert, und zudem ein Stadion bauen, als Ersatz für die alte Rosenau.

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Seinsch hat aus dem FCA nun tatsächlich einen Erstligisten gemacht, und er ist wohl ganz in seinem Sinne geraten: der kleinste und bescheidenste Bundesligaklub seit langem, mit einem Budget von 30 Millionen Euro. Der 70-Jährige lebt zurückgezogen in Lindau und Münster. Als Vorstandschef ist er zwar der starke Mann, aber seit einer Erkrankung an Depressionen begleitet er den Verein über Telefon und Fax.

Rettig und Trainer Jos Luhukay sind seine Vertrauten. Seinsch, Vater von neun Kindern, davon sechs adoptiert, könnte mit seinem Geld sicher einen konkurrenzfähigeren Neuling formen. Aber das will er nicht. Nicht um jeden Preis. Vor der Saison sagte Seinsch, Luhukay könne ruhig alle 34 Spiele verlieren. Der holländische Aufstiegscoach bleibe trotzdem Trainer.

Zehn Jahre hat Seinsch über eine Investorengruppe geschätzt zehn Millionen in den Klub gesteckt, vor allem in den Aufbau professioneller Strukturen und das neue Stadion, das jetzt draußen an der B 17 steht. Nun soll sich der Verein aus dem Arbeiterviertel Oberhausen selbst tragen. Eine Arena-Fassade müsste eigentlich noch errichtet werden, Kostenpunkt bis zu zwei Millionen Euro; aber die Stadt hat den FCA aus dieser Verpflichtung entlassen.

Auch auf eine Rasenheizung für die zweieinhalb neuen Trainingsplätze am Stadion, die im Januar fertig sein sollen, verzichtet man aus Spargründen. Man wolle nicht den Weg anderer, versunkener Traditionsklubs gehen, sagt Rettig. "Es gibt keinen Ersatz für wirtschaftliche Vernunft."

Derjenige, der das vorgibt, ist nicht zu sprechen, heißt es auch diese Woche in Augsburg . Aber dann, vor dem Nachmittagstraining, ist Seinsch doch am Telefon. "Welch' ein Abstieg für Sie!", sagt er heiter zum Besucher aus der Fußballgroßstadt München. Auch Seinsch gilt als bodenständig, "wir können nicht das Geld der nächsten Saison schon verfrühstücken", spricht er in Münster in den Hörer. Ob man im Winter trotz der erwartet schwierigen Lage neue Spieler verpflichten werde, "das ist offen, denn alles muss bezahlbar bleiben". Und dann erzählt er noch, dass er nächste Woche wieder eine Wohnung in Augsburg beziehe. "Denn mir geht es wieder besser, ich will näher dran sein." Sonntag gegen die Bayern kommt er aber nicht. Ins Stadion geht er selten. Das nimmt ihn zu sehr mit.

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Und so befindet sich der FCA, dieser mit seinen Einrichtungen in der Stadt verteilte Verein aus der Vergangenheit, auf einer ungewöhnlichen Reise in die Zukunft. Denn die Augsburger ahnen, dass sie wahrscheinlich gleich wieder absteigen, ihr Ziel ist Platz 16, die Relegation. Aber man hat den Eindruck, dass selbst ein Abstieg ein Fortschritt für sie wäre. "Wir haben keine Schulden", sagt Peter Bircks, "wir würden in der zweiten Liga nicht wieder von vorn anfangen."

Bircks, 59, früher mal Präsident, ist Chef des Aufsichtsrats, er hat Seinsch vor elf Jahren mal vorsichtig angerufen, als er von dessen gescheiterten Engagements in Schalke und Reutlingen las. Im Gegensatz zu den Schalkern ließ der FCA den misstrauischen Millionär in die Bücher schauen, obwohl der Anblick schmerzte. Und nun sitzt Bircks, der mit dem FCA über die Nebenplätze des Fußballs tingelte, in Plattling oder Ansbach, im Vip-Bereich der neuen Arena und sagt: "Das mit der Bundesliga, das hätte ich nie geglaubt."

Die Euphorie über eine Entwicklung, die für diesen Verein wohl ein wenig zu rasant gewesen ist, hält sich in der Stadt, trotz der bescheidenen Ergebnisse. 18 000 Dauerkarten sind verkauft, ebenso die 53 Logen, und die Mitgliederzahl hat sich mit fast 10 000 binnen sechs Monaten verdreifacht.

Am Montag haben sie in der City den Fanshop an der Bahnhofstraße wiedereröffnet. Das Geschäft läuft gut, obwohl dem Team die großen Namen fehlen und in der Tabelle ein paar Punkte. Aber Augsburg und die Region tasten sich dankbar wieder heran an eine verblasste Marke. "Wer ist denn Kapitän", fragt eine Kundin, die ihr Trikot mit einem Namen beflocken lassen möchte. Möhrle ist der Kapitän, sagen sie ihr. Doch am besten laufe Bellinghausen.

So gut wie Helmut Haller, 72, werden sie nie werden, aber den einstigen Nationalspieler hat das schon "sehr berührt", als sein FCA im Mai aufstieg. Er ist sogar im Stadion gewesen, und er habe "Tränen in den Augen gehabt", lässt er über seine Tochter übermitteln; er ist gesundheitlich nicht ganz so gut beisammen.

Haller. Seine Bilder hängen überall in der Geschäftsstelle, die Farben verblassen und die Rahmen sind verzogen. Aber im Vip-Bereich des Stadions zeigen ihn drei imposante Plakate, eine Vitrine zu seinen Ehren wollen sie noch einrichten. Das Alte soll bewahrt werden, zwangsläufig auch in der Renz-Anlage: Die Geschäftsstelle wird 2012 nicht komplett ausziehen können, wohl auch nicht Waschfrau Marlene. So viel Platz ist im neuen Stadion auch wieder nicht vorhanden. "Aber wir stehen sowieso zu unserer Vergangenheit", sagt Rettig, als er im Anbau das winzigste Trainerzimmer der Liga abschreitet.

Das Maß interessiert ihn jetzt selbst, zwei Schritte breit, gut drei in der Länge, mehr Platz haben Luhukay und seine beiden Assistenten nicht in Raum 15. "Das klingt nach hohler Phrase", sagt Rettig, "aber wir schämen uns hier für nichts."

© SZ vom 05.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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