"Bin ich hier in einem Märchen?", fragte Sarina Wiegman kürzlich nach dem Erreichen des WM-Finales. Und das dürfte sich in diesem Moment nicht nur die Trainerin der englischen Fußballerinnen gefragt haben. Sondern auch die Football Association (FA), die in ihrer langen Geschichte sowohl bei den Frauen als auch den Männern vorwiegend Pleiten, Pech und Pannen zu verwalten hatte. Seit dem WM-Heimerfolg 1966 wartete England auf einen Turniersieg - bis die Niederländerin Wiegman auf Anhieb die Frauen zum EM-Titel 2022 führte und nun beinahe auch auf den Weltthron.
Weil den Männern parallel unter Nationalcoach Gareth Southgate zuletzt ähnlich achtbare, wenngleich titellose Turnierleistungen gelungen sind, muss die FA gerade mal weniger nach potenziellen Nachfolgern fahnden. Sie muss eher versuchen, die Verträge mit dem bestehenden Personal zu verlängern. Der Vertrag von Southgate endet 2024, Wiegman ist noch bis 2025 angestellt. Die Laufzeiten decken zwar jeweils die anstehenden Turniere ab, die Männer-EM 2024 sowie die Olympischen Spiele 2024 und die EM 2025 der Frauen. Aber die Planungen beginnen schon jetzt.
Die Ähnlichkeiten zwischen Southgate und Wiegman sind auffällig
Die FA wirkt bestrebt, die Zusammenarbeit mit Wiegman und Southgate fortzusetzen. Anders als in der Vergangenheit befindet sich der Verband in einer starken Verhandlungsposition. Die Auswahlteams der Frauen und Männer gehören zur Weltspitze, zusammen bilden sie derzeit sogar die stärkste Fußballfraktion einer Nation. Doch passt eine Vertragsverlängerung auch zu den Überzeugungen von Southgate und Wiegman?
Beide haben mit ihrer Arbeit in den vergangenen Jahren internationale Begehrlichkeiten geweckt. Zudem zählt Southgate zu den dienstältesten Auswahltrainern, er betreut die Three Lions schon seit Herbst 2016. Noch hat er in der Öffentlichkeit keine Andeutung gemacht, ob er sich einen Verbleib vorstellen könnte. Seine Zukunft hängt vermutlich ohnehin vom Abschneiden seiner Mannschaft bei der EM in Deutschland ab. Die Qualifikation wäre den bisher ausschließlich siegreichen Engländern mit einem weiteren Erfolg gegen die Ukraine im polnischen Breslau am Samstag wohl nicht mehr zu nehmen.
Aus diesem Grund muss die FA auf dem Trainerposten der Männer gerade zweigleisig planen, mit und ohne Southgate. Durch das gewachsene Vertrauensverhältnis ist nicht davon auszugehen, dass der Verband über den verdienten Southgate hinweg entscheiden würde. Ein Abschied erscheint daher gerade nur denkbar, wenn er ihn selbst erklärt. In diesem Fall blieben der FA bei der Suche nach einem Nachfolger zwei Optionen: ein bekannter Klubtrainer (wie etwa Pep Guardiola oder Jürgen Klopp) oder eine verbandsinterne Lösung. Hier wäre Wiegman - vorausgesetzt, sie kann sich eine Tätigkeit im Männerfußball vorstellen - die naheliegende Lösung.
Diese Idee machte FA-Geschäftsführer Mark Bullingham spruchreif, indem er kürzlich verlautbarte, dass man generell nicht den besten Mann, sondern die beste Person für den Nationaltrainerposten suche. Aus seiner Sicht könnte Wiegman mit ihrem Wissen "jegliche Tätigkeit" übernehmen. So prominent platzierte noch kein Verbandschef einer bekannten Fußballnation die Überlegung, erstmals eine Frau als Trainerin der Männer zu engagieren. Nur: Ist eine solche Konstellation realistisch? Oder zieht sie die FA bloß in Erwägung, um Wiegman zum Bleiben zu bewegen, weil auch die USA (für die Frauen) und die Niederlande (für die Männer) an ihr interessiert zu sein scheinen?
Wiegmans Siegesaura hatte Englands Verband einst überzeugt, mit ihr erstmals in der Historie einen nicht-britischen Coach fürs Frauenteam zu verpflichten. Ihre Nominierung wirkte seinerzeit wie der verzweifelte Versuch, den Teufelskreis der Titellosigkeit zu durchbrechen. Sie scheiterten, fast schicksalhaft wie ihre männlichen Kollegen, immer unmittelbar vor dem Ziel. Doch mit Wiegman kam der Glaube an die eigene Stärke zurück, aus einem einfachen Grund: weil sie mit den Niederlanden 2017 schon den EM-Titel geholt hatte.
Ihre Persönlichkeit passte sofort zu den Bedürfnissen in England. Mit ihrer typisch niederländischen Direktheit löste sie die Zweifel auf. Ihr Vorgehen glich jenem ihres Kollegen. Wiegman und Southgate haben weitaus mehr miteinander gemein als nur das Alter, beide sind 53: Sie überzeugen mit Menschenkenntnis, Arbeitseifer, detaillierter Planung und strategischem Geschick. Auch ihr seriöses, verbindliches Auftreten und ihre soziale Gesinnung wirken identisch. Trotzdem drücken sie sich nicht vor unbequemen Entscheidungen. Diese Eigenschaften machen Wiegman und Southgate zu Generalmanagern, die sich viele an der Spitze ihrer Organisation wünschen würden.
Sogar die manchmal aufkommende Kritik an ihnen liest sich in gewisser Weise gleichartig. Beiden wird hin und wieder vorgehalten, in ihren Ansichten zu dogmatisch zu sein. Sie vertrauen mehr ihrer gründlichen Vorarbeit als spontanen Einfällen. Und auch der in England entstandene Personenkult weist jeweils Gemeinsamkeiten auf: So geriet Southgates Weste bei der WM 2018 zum Verkaufsschlager, und das Boulevardblatt Mail schlug Wiegman kürzlich zur "Queen Sarina of the Lionesses". Dabei ist ein solcher Hype wahrlich nicht die Sache der beiden.
Sofern Southgate bald abtreten sollte, ist es durchaus vorstellbar, dass er seine Kollegin als seine Nachfolgerin empfiehlt. Schon nach Wiegmans Einstellung soll er ihr geholfen haben, sich im neuen Verband zurechtzufinden. Doch die beste Lösung für die FA besteht wohl erst mal darin, beide zu halten.