Ewald Lienen beim Krisenklub AEK Athen:Sozialarbeiter aus Schloß Holte-Stukenbrock

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Die Szene, auf die Europas Fußball schockiert schaut: AEK-Spieler Katidis zeigt den Hitlergruß.  (Foto: REUTERS)

Schulden ohne Ende, fanatische Fans und ein Spieler, der wegen eines Hitlergrußes gesperrt wird: Ewald Lienen erlebt als Trainer des gebeutelten Traditionsklubs AEK Athen die Schrecken des Fußballs. Der deutsche Coach begegnet den ungeheuren Zuständen in Griechenland mit viel Hingabe und starken Nerven.

Von Gerald Kleffmann

Ewald Lienen hat schon viel mitgemacht, seit er wieder in Griechenland arbeitet, beim traditionsreichen Hauptstadtklub AEK Athen; im Oktober 2012 heuerte er dort an. Oft genug erschienen Spieler zum Training und teilten mit, dass ihnen einen Räumung drohe, weil der Verein die Miete nicht bezahlen könne. Oder er musste Frühstück spendieren. Die Trainingsplätze wurden derart dilettantisch gebaut, "dass du hier Wasserpolo spielen kannst, wenn es regnet".

Einer seiner Profis wurde zusammengeschlagen, weil er tags zuvor eine abfällige Handbewegung beim Warmlaufen gemacht hatte. Ach, und die Schulden von AEK, die türmen sich höher als die Akropolis - "ob es hier nach dieser Saison weitergeht, steht in den Sternen". Lienen, der deutsche Trainer, der einen Vertrag bis 2014 hat, erhält schon lange kein Geld. Und selbst wenn die akut vom Abstieg bedrohte Elf gewinnt wie am Samstag beim 2:1 gegen AE Veria, "gerät der Fußball zur Nebensache, weil es sofort ein anderes Pulverfass gibt".

Wie gerade. Der Klub hat eine Faschismusdebatte am Hals. Traurig, aber wahr: So was fehlte noch in Lienens Schreckenssammlung. Mittelfeldspieler Giorgos Katidis hatte nach seinem 2:1-Siegtreffer den Hitlergruß gezeigt. Nun ist bei den Fans, in der Presse, im Klub natürlich wieder die Hölle los.

"AEK ist der antifaschistische Klub schlechthin", sagt Lienen, "die Geste geht nicht, hier aber schon gleich gar nicht." U21-Nationalspieler Katidis wurde inzwischen vom Verband lebenslang für alle Nationalteams gesperrt. Seine dürftige Erklärung sowie eine Entschuldigung im Internet nahm ihm keiner ab. Er habe das Tor einem Spielerkollegen auf der Tribüne widmen wollen. Er habe auf ihn gezeigt und die Fans zum Aufstehen aufgefordert.

Auch Lienen kritisierte Katidis scharf, eine Trennung sei möglich. Wenngleich er noch zu vermitteln versuchte. Im Grunde ist der 59-Jährige - einer der spannendsten Akteure, die der deutsche Fußball als Spieler (Gladbach, Bielefeld) und Trainer (Duisburg, Köln, 1860 München) hervorgebracht hat - nicht als Fußballlehrer bei AEK im Einsatz. Lienen ist Sozial- und Jugendarbeiter, Prediger, Mahner, Krisenmanager.

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"Er hat diesen Gruß vielleicht im Internet gesehen, ohne zu wissen, was er bedeutet", sagt Lienen, der die Geste in keiner Weise entschuldigt. Schon gar nicht er, der frühere Friedensaktivist, der so (links-)politisch war und ist wie kaum ein anderer deutscher Fußballer. Dass sich Lienen auch vor Spieler wie Katidis wirft, hat damit zu tun, dass er eine fürsorgliche Ader hat. Und damit, dass er um die schwere Kindheit von Katidis weiß: Gewalt spielte darin eine große Rolle.

Zudem: Der 20-Jährige sei "ein junger Kerl ohne politische Ansichten", am Samstag saß dieser heulend in der Kabine und verstand angeblich nichts. Da war er besonders gefordert, der strenge Therapeut aus Schloss Holte-Stukenbrock, der einst bei den Fohlen in Gladbach tollkühne Dribblings zeigte.

Lienen wundert sich über nichts bei seiner dritten Station in Griechenland. Obwohl sein Engagement neue Zuspitzungen beinhaltet. "Man kann sich das in Deutschland nicht vorstellen", sagt er. Der Klub, das merkte er bald, war ausgenommen wie eine Gans. Spieler und Berater bedienten sich, Transferentschädigungen sind noch zu leisten, Gehaltszahlungen auch. Werbe- und TV-Erlöse fließen zur Tilgung gleich ab. Dazu drückt eine Steuerlast in zweistelliger Millionenhöhe.

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"Es wurde stets netto gezahlt", sagt Lienen, der immerhin fürs Diensthandy nicht aufkommen muss. Seine zumeist jugendlichen Spieler, Profis wohlgemerkt, kassieren zum Teil 500 bis 1000 Euro im Monat. Nur ein Investor kann AEK retten, es gibt einen Interessenten. Doch "die Regierung hat auf Druck der EU und der Troika beschlossen, dass alle Schulden binnen eines Jahres beglichen werden müssen", sagt Lienen. Utopisch. Selbst beim Klassenverbleib, der vier Spieltage vor Schluss nicht feststeht, könnten die Lichter ausgehen. Kaum vorstellbar, was dann los ist. Die Originals 21 geben einen Vorgeschmack, was blühen könnte.

Seit Monaten haben Aktivisten, nach Block 21 im Stadion benannt, einen Raum in der Geschäftsstelle besetzt. Alles friedlich. Aber unmissverständlich. "Die wollen Antworten haben, wer für die Pleite verantwortlich ist, warum keiner der reichen Mitglieder hilft." Am Anfang hausten bis zu 15 dieser Hardcore-Fans in dem Gebäude, inzwischen wechseln sich zwei bis drei mit der Belagerung ab. Ein Zustand, den Lienen so beschreibt:

"Vor Videoanalysen muss ich Matratzen zur Seite schieben. Oder die Anlagen sind auseinandermontiert, nichts geht dann." Einen Monat lang gar seien die Mitarbeiter der Geschäftsstelle nicht erschienen. Als Lienen drohte, hinzuwerfen, kamen sie zurück. Die Fans rauswerfen, geht nicht: "Die rücken mit 5000 Mann an." Die Geschichte von AEK ist die Geschichte eines Fußballklubs, der diverse Probleme unserer Zeit vereint: die politisch heikle Lage, das oftmals kaputte System im Fußball, Korruption, Überlebenskampf. Aber nicht nur das, zum Glück.

"Ich mache das, weil hier viele engagierte Menschen sind", sagt Lienen. Die Mentalität, die Kultur schätzt er, "die leben alle für AEK, man wird oft mit einer unglaublichen Herzlichkeit überschüttet". Die schnell aber auch erdrücken kann. "Als wir sechs Spiele nacheinander erfolgreich waren, faselten alle gleich von der Qualifikation für die Europa League. Hier gelten andere Regeln." Lienen lacht nun doch ungläubig. Selbst er sagt: "Das alles ist Stoff für ein ganzes Buch."

© SZ vom 18.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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