European Championships:Die Angst vor der Landung

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Hoffnungsträger, schön illuminiert: Marcel Nguyen schwebt Anfang Mai über dem Dach des Münchner Olympiastadions. (Foto: Munich 2022/Marc Müller)

Der Unterhachinger Turner Marcel Nguyen hofft 100 Tage vor dem Start der European Championships in München auf seinen Einsatz, doch den Silbergewinner der Olympischen Spiele von London plagen Schmerzen im lädierten Kreuzband. Für den 34-Jährigen, der vor seinem wohl letzten großen Wettkampf steht, ist es auch ein Wettlauf gegen die Zeit.

Von Sebastian Winter, München

Einige Prominenz ist am Mittwoch ins Olympiastadion gekommen, um auf einen besonderen Countdown aufmerksam zu machen. Nur noch 100 Tage sind es bis zum Start der European Championships in München - jenen Europameisterschaften in neun Sportarten also, die vom 11. bis 21. August vornehmlich im Olympiapark, auf dem Königsplatz und an der Ruderregattastrecke ausgetragen werden. Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo ist da, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, Olympiapark-Chefin Marion Schöne. Und ganz links, tief in seinem Stuhl versunken, auch Marcel Nguyen.

Der Turner aus Unterhaching schaut entspannt in die Runde, von ganz links außen, was auch ein kleines, wenn auch sicher unbeabsichtigtes Statement ist. Denn richtig mittendrin ist Nguyen, 34, der vor fast zwölf Jahren in London zwei Silbermedaillen am Barren und mit der Mannschaft gewann, gerade nicht mehr, zumindest nicht in seinem Sport. Die Schulter zwickt, das Handgelenk, vor einem knappen Jahr riss ihm das Kreuzband im rechten Knie. Zum zweiten Mal nach 2014. Es war das bittere Ende von Nguyens Plänen, bei den Olympischen Spielen in Tokio zu starten und dort vielleicht noch einmal an seine Silber-Übungen von London anknüpfen zu können. Für ihn sprang Lukas Dauser ein, sein Vereinskamerad, und gewann Silber am Barren.

100 Tage vor den European Championships, ist das nicht auch deshalb, weil er wieder aus dem Schatten anderer treten möchte, ein wunderbarer Zeitpunkt, um übers Comeback zu sprechen? Ist er also bereit für die Heim-EM in der Münchner Olympiahalle? Kurz gesagt: So entspannt, wie er schaut, ist er nicht. Es dürfte knapp werden für Marcel Nguyen.

Das Kreuzband sei noch nicht einhundert Prozent so, "wie ich mir das wünsche, die Beweglichkeit ist noch nicht so da, bei der Landung habe ich noch Schmerzen"

Das Kreuzband sei noch nicht so, "wie ich mir das wünsche, die Beweglichkeit ist noch nicht so da, bei der Landung habe ich noch Schmerzen", sagt Nguyen der SZ im kurzen Gespräch, bevor er aufs Podium steigt. Auch deshalb wird er sich bei seinen kommenden Wettkämpfen auf Barren, Ringe und Reck konzentrieren und die fürs Knie potenziell noch herausfordernden Übungen am Boden und im Sprung weglassen: "Der Fokus liegt auf den European Championships, aber ich muss sehen, wie es dem Knie geht. Es wird eng, ich habe Respekt vor der Landung, der Jüngste bin ich auch nicht mehr." Das klingt nach einem Wettlauf mit der Zeit, 100 Tage sind ja eine Winzigkeit für jene, die sich nach einer so schweren Verletzung zurückkämpfen. Aber er will es unbedingt versuchen, auch weil er eines genauso unbedingt vermeiden möchte: im Krankenstand von der Bühne abzutreten.

Im Training ist Nguyen ja schon länger, am Mittwoch vor dem 100-Tage-Termin im Olympiastadion hat er noch in Oberföhring trainiert, weil die Unterhachinger Halle wegen der Abiturprüfungen belegt war. Doch nun will er auch wieder die so nötige Wettkampfpraxis sammeln - und seine Angst vor der Landung überwinden. Am kommenden Samstag turnt Nguyen zum Bundesliga-Auftakt mit der KTV Straubenhardt gegen die Siegerländer KV. Bis Ende Mai ist er dann an jedem Wochenende in der Bundesliga unterwegs, danach beim Weltcup in Bulgarien und Ende Juni bei der deutschen Meisterschaft in Berlin. Spätestens dann dürfte Nguyen wissen, ob sein Knie auch wirklich hält, ob er bereit ist für die Europameisterschaft in München.

Eine Medaille sei dort drin, sagt er, im Einzel wie auch mit der Mannschaft. Und dann? "Es könnte schon sein, dass ich danach meine Karriere beende. Nur wenn es mir megasupergut geht, mache ich weiter." Also weiter bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Nguyen, der schon jetzt in einem außergewöhnlich hohen Turnalter ist, wäre dann fast 37. Sein Trainer möchte ihn überreden. Andererseits sind zwei Kreuzbandrisse (und viele weitere Blessuren) irgendwann auch genug für ein einziges Sportlerleben.

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