Fußball-WM:Das skurrile Spiel wirft viele Fragen auf

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  • Das eigentliche Topspiel der Gruppe G verkommt zu einem skurrilen Ereignis.
  • Sowohl Belgien, das 1:0 gewinnt, als auch England setzen im Kampf um den Gruppensieg auf eine B-Elf.
  • Die Frage ist nun, ob Englands Trainer Gareth Southgate durch seine Totalrotation das Wachstum seines jungen Teams nicht unnötig unterbrochen hat.

Tobias Schächter, Kaliningrad

Kurz vor Mitternacht stand Gareth Southgate in der Defensive. Ob er nicht eine Verantwortung gespürt habe für die vielen englischen Fans, die aus der Heimat an diesem Donnerstag nach Kaliningrad gekommen seien, um die beste englische Mannschaft zu sehen, wurde der englische Nationaltrainer gefragt. Und ob er nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, dass seine so hoffnungsvoll ins Turnier gestartete Elf durch die Pause im abschließenden Gruppenspiel gegen Belgien nicht vielleicht doch ein wenig an Schärfe für den weiteren Turnierverlauf einbüßen könnte.

Gareth Southgate ist das Verteidigen gewohnt, er war einst Abwehrspieler in Englands Nationalteam. Aber schon damals ein eher untypischer Vertreter englischer Verteidigungskunst, sachlich, weniger grob. Als Nationaltrainer hat sich Southgate zur Aufgabe gemacht, den englischen Fußball zu modernisieren. Und bei vielen Fans ist zuletzt die Hoffnung gewachsen, dass England mit dem 47-Jährigen endlich einmal wieder weit kommen könnte bei einem großen Turnier. Nun verloren die Three Lions Donnerstagnacht am Ende eines herrlichen Sommertages an der Ostsee gegen Belgien in Kaliningrad mit 0:1. Beide Teams waren punkt- und torgleich schon vor dieser Begegnung für die K.-o.-Runde qualifiziert. Und beide Trainer entschieden sich deshalb für die fast totale Rotation, schonten ihre Stars und schenkten den Ersatzspielern WM-Einsatzminuten. Southgate erklärte: "Manchmal ist es wichtiger, das Große und Ganze im Sinn zu haben." Und: "Jeder weiß, dass das Wichtigste in einem Turnier die K.-o.-Spiele sind. Auch die Fans verstehen das, sie haben uns super unterstützt heute."

Michy Batshuayi sorgt für eine Slapstick-Einlage

Es war ein skurriles letztes Spiel der Gruppe G, das eigentlich eine der Attraktionen dieser Vorrunde hätte werden sollen. Aber durch die beiden Siege der Konkurrenten zuvor und die Entscheidung der Trainer, die Teamharmonie durch den Einsatz der Ersatzspieler zu stärken, verkam es zu einem Testspiel auf der Weltbühne. Es wurde dann zwar eine ganz ordentliche Partie, aber ohne die letzte Schärfe, die letzte Verbissenheit. Und sie lieferte ein wunderschönes Tor von Adnan Junuzaj (51., Schlenzer in den Winkel) und eine Slapstickeinlage von Michy Batshuayi. Der zuletzt vom FC Chelsea an Borussia Dortmund ausgeliehene Stürmer knallte den Ball im Nachklapp des Siegtreffers statt erneut ins Netz oder in den Nachthimmel mit voller Wucht an den Pfosten - von wo aus Batshuayi die Kugel voll gegen den Kopf flog: Eine kuriose Szene für den Turnierrückblick. Und dennoch hatte das belanglose sportliche Treiben erhebliche Konsequenzen - über die im Vorlauf schon heiß diskutiert worden war und die auch die Debatte nach dem Spiel bestimmten.

Belgien wird Gruppensieger
:Batshuayi trifft sich beim Torjubel selbst

Das belgische Team schafft mit einem Sommerkick den Gruppensieg gegen England. Der Dortmunder Michy Batshuayi sorgt für die lustigste Szene des Spiels - und reagiert mit Selbstironie.

Von Sven Haist

Klar ist nämlich jetzt, dass die Belgier als Gruppensieger im Achtelfinale in Japan zunächst den vermeintlich leichteren Gegner haben, in einem möglichen Viertelfinale aber schon auf Brasilien treffen könnten, sofern sich der Favorit gegen Mexiko durchsetzt. Die Engländer als Gruppenzweiter treffen in der nächsten Runde auf die hoch eingestuften Kolumbianer, hätten dann aber den vermeintlich leichteren Weg ins Halbfinale, weil im Viertelfinale der Sieger aus der Partie Schweiz gegen Schweden wartet. Können derlei Spekulationen die Strategie eines Trainers beeinflussen?

Belgiens Trainer Martínez erklärte mit der Aussicht auf ein nun mögliches Viertelfinale gegen Brasilien: "Man kann bei einem großen Turnier nicht erfolgreich sein, wenn man den leichten Weg sucht." Aber der Spanier gab auch zu, dass es für seine Mannschaft unter logistischen Gesichtspunkten besser gewesen wäre, die Gruppe als Zweiter abzuschließen. Die Belgier residieren in Moskau, wo auf dem Weg bis ins Finale für den Gruppenzweiten drei Spiele bis in ein mögliches Finale stattfinden. Als Gewinner der Gruppe sind die Belgier nun größerem Reisestress ausgesetzt, aber Martínez erklärte: "Das Einzige, was zählt, ist jetzt die Partie gegen Japan." Und Kollege Southgate meinte trotzig: "Wir sind in der Lage, gegen Kolumbien zu gewinnen."

Die Frage ist, ob Southgate das Wachsen seines Teams unterbrochen hat

Beide Trainer hatten gute Gründe für ihr Handeln: Beide wollten gelbe Karten, die zu Sperren führen, und Verletzungen von Stammspielern vermeiden und durch Spielzeit für alle den Teamgeist im Kader stärken. Doch gerade im Fall der Engländer wirft das Vorgehen auch Fragen auf. Während die Belgier eine erfahrene Mannschaft stellen, die schon lange zusammen spielt und möglicherweise auf dem Zenit ihres Könnens agiert, sind die jungen Engländer eine Mannschaft im Wachsen.

"Wir sind ein Team, das besser wird und andeutet, ein aufregendes Fußballteam zu sein", sagt Southgate. Die Frage ist, ob der Trainer durch seine Totalrotation dieses Wachsen nicht unnötig unterbrochen hat. Und ob der bisher fünf Mal bei diesem Turnier erfolgreiche Torjäger Harry Kane, der Chancen hat, WM-Torschützenkönig zu werden, wirklich glücklich ist, dass ihm der Trainer ein ganzes Spiel auf der Bank beließ. Southgate versicherte, alle Spieler und der ganze Stab stünden hinter seiner Entscheidung. Allerdings gab er auch zu: "Obwohl wir schon für das Achtelfinale qualifiziert waren, war es für mich das strategisch schwerste Spiel in der Vorbereitung."

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