EM in der Pandemie:Besser als gedacht

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Finnlands Fans haben eine gute Zeit bei dieser EM. (Foto: AP)

Über die Wahrnehmung einer EM entscheiden immer auch die Fans, die ihren Teams nachreisen. Und diesmal? Wie ist die Stimmung beim ersten paneuropäische Turnier, mitten in der Pandemie? Unterwegs mit Finnen in Sankt Petersburg.

Von Sebastian Fischer, Sankt Petersburg

Im weitesten Sinne sind es Lieder über die Liebe, die Finnlands Fans in der russischen Nachmittagssonne singen. In dem einen geht es darum, dass sie eine starke Leistung ihres Torwarts Lukas Hradecky erwarten. Also umschreiben sie mit einem deftigen Wort für den praktischen Teil der Liebe, wie Hradecky Sankt Petersburg beglücken werde (wo die Finnen allerdings später 0:1 gegen Russland verlieren). Das nächste Lied ist romantischer. Es handelt von der innigen Beziehung der Anhänger zu Nationaltrainer Markku Kanerva.

Gut zwei Stunden noch bis zum Anpfiff des zweiten EM-Gruppenspiels des finnischen Nationalteams am vergangenen Mittwoch. Die Gaststätte namens "Alpenhaus", nur ein paar hundert Meter von der Gazprom-Arena entfernt, hat mittags schon geöffnet. Dort bedienen die Kellnerinnen in Kleidung, die nach alpenländischer Tracht aussehen soll. Auf Tafeln über Bierbänken und Biertischen steht "Biergarten" und "Oktoberfest". Und die finnischen Fans tun dort schon eine Weile bei herausragend guter Laune das, wozu das Ambiente auffordert: Sie trinken das eine oder andere Bier.

Eine Europameisterschaft lebt zu einem großen Teil von den Zuschauern, in besonderem Maße von denen, die als Gäste angereist kommen. Nur so entstehen Begegnungen, die der Zusammenkunft von Fußballprofis eine Bedeutung über den Sport hinaus geben. Und auch so entstehen Momente, die in Erinnerung bleiben. Die Nordiren sind bei der EM 2016 im Achtelfinale ausgeschieden, aber sie haben einen Ersatzspieler auf die Melodie von "Freed from Desire" gefeiert, es wurde das Lied des Turniers: "Will Grigg's On Fire!" Die Iren sangen in freundschaftlicher Verbundenheit mit den Ordnungshütern: "Stand up for the French Police!" Die Isländer klatschten im Rhythmus zum "Huh!".

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Diesmal, bei dem mit einem Jahr Verspätung ausgetragenen paneuropäischen Turnier in der Pandemie, ist alles etwas komplizierter. Die Zuschauer sind zurück in den Stadien, das war offenbar die Bedingung des europäischen Fußballverbands Uefa an die elf Ausrichterstädte. Doch die Ungewissheit über Reisebeschränkungen ließ viele Anhänger, die ihr Team ins Ausland begleiten wollten, von ihren Plänen Abstand nehmen. Jenen, die trotzdem reisen wollten, blieb die Unsicherheit, ob sie auch nach der Verlosung unter den Ticket-Käufern ihre Karten behalten würden. Einzig in Budapest darf das Stadion voll sein, angeblich nur mit Geimpften, was Ungarns rechtspopulistischem Ministerpräsidenten Viktor Orban äußerst gefällige und gleichsam befremdliche Bilder liefert.

Ja, sagt Aaro Kuivalainen, als er am Mittwoch zwischen den finnischen Fans vor dem "Alpenhaus" steht: "Es wird einem schwer gemacht", das alles zu genießen. Er erzählt von Freunden, die nach Kopenhagen reisen wollten, zum finnischen Auftaktspiel, aber nur manche innerhalb der Gruppe hatten Losglück.

Es wurde ein historischer Tag für Finnlands Fußball, der erste Sieg im ersten EM-Spiel. Vor allem war es aber die Partie mit den prägenden Momenten des Turniers, den dramatischen Szenen der Wiederbelebung von Dänemarks Christian Eriksen nach einem Herzstillstand. Als die Nachricht das Stadion erreichte, dass der Spieler aufgewacht war, stimmten Finnlands Fans Sprechchöre an. "Christian", riefen sie. "Eriksen", antworteten die Dänen.

Die Finnen sind ein Beispiel dafür, was für ein Fest diese EM hätte sein können

Kuivalainen, 39, war mal der Vorsitzende des offiziellen Fanklubs, inzwischen ist er zuständig für die Presseanfragen. Gerade wollen viele etwas von ihm wissen. Finnlands Mannschaft fliegen die Sympathien zu, was auch an ihren besonderen Charakteren liegt. Kapitän Tim Sparv, 34, bezeichnet sich selbst als "keine Tore schießender Profi, der sein Bestes versucht, mit den Teenagern mitzuhalten". Die Mitgliederzahlen des Fanklubs steigen. Das Island dieser EM könnten sie werden, heißt es, das Überraschungsteam, auch wenn mit dem abschließenden Gruppenspiel gegen Belgien nun das Aus droht. Aber nicht nur deshalb sind die Finnen ein Beispiel dafür, was für ein Fest diese EM hätte sein können - und was sich nun trotzdem daraus machen lässt.

"Manche waren dagegen, nach Russland zu reisen", sagt Aaro Kuivalainen vom Fanklub der finnischen Nationalmannschaft. Aber die, die da sind, erleben nun einzigartige Tage - auch er. (Foto: OH)

Kuivalainen, ein Mann von zierlicher Statur, steht vor einem Zelt, in dem seine Kollegen vom Fanklub Fischerhüte, Schals und T-Shirts verkaufen, natürlich trägt er alles auch selbst. Auf seiner Brust steht unter einer Europa-Karte ein Datum, 15. November 2019: Da qualifizierten sich die Finnen für ihre erste EM. Die Pandemie? War noch fern.

Er habe damals vor dem entscheidenden Spiel gegen Liechtenstein noch ein Interview fürs Radio gegeben, dann sei er zum Stadion in Helsinki spaziert. Sein Platz war gleich hinter dem Tor, in das die Finnen beim 3:0 ein Mal trafen. Danach trank er ein paar Gläser Wein. In Helsinki wurde auf den Straßen gefeiert.

Die Bilder von einer Party in der Hauptstadt gab es auch diesmal, nach dem 1:0 gegen Dänemark. Im Fernsehen erreichte das Spiel mehr als zwei Millionen Menschen, das kommt den Zahlen bei wichtigen Eishockeyspielen nahe. Es gab einen Autokorso, Pyro-Fackeln wurden gezündet. Aber ist diese Freude dieselbe, die sie hätte sein können? Oder ist sie sogar ausgelassener, nach zehrenden Pandemiemonaten? Das finnische Institut für Gesundheit hat Fans jedenfalls empfohlen, die Spiele daheim zu schauen und nicht zu verreisen. In Finnland sind die Infektionszahlen niedrig. In Russland steigen sie wieder rasant. Am Freitag teilte Bürgermeister Sergej Sobjanin mit, dass in der Hauptstadt Moskau die Fan-Zone, wo bislang 5000 Menschen zugelassen waren, geschlossen wird.

"Verfolgen Sie nur Sport oder auch Politik?" - Es ist ja kompliziert

Kuivalainen bangte in den vergangenen Monaten um seine Karten und die Organisation der Reisen, die der Fanklub übernimmt, allerdings nicht nur aus pandemischen Gründen. "Verfolgen Sie nur Sport oder auch Politik?", fragt er vorsorglich. Es ist ja kompliziert, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll: Krim, Nawalny, Belarus. "Manche Leute waren dagegen, nach Russland zu reisen", sagt er. Andererseits: Viel näher als über die Grenze im Osten können Auswärtsspiele für Finnland nicht sein.

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Er kennt viele Leute, die besorgt sind, viele sagten ihren Trip ab. Rund 3000 Finnen, heißt es, kamen angeblich zum Russland-Spiel nach Sankt Petersburg, wo am Montag auch die entscheidende Partie gegen Belgien stattfindet. Mehr als sechsmal so viele wären es wohl ohne Virus, schätzen die finnischen Journalisten.

Kuivalainen wählt den pragmatischen Ansatz. Es gebe verlockende öffentliche Saunen in Sankt Petersburg, aber "in einem heißen Raum mit Russen sitzen und gemeinsam schwitzen, das ist eine Sache, die wir jetzt nicht machen". Auch eine Bootsfahrt auf dem Fluss Newa mit lauter Fans in weiß-blauen Trikots wäre schön, aber das gäbe "negative Publicity".

Am Freitag, nach vier Tagen in Sankt Petersburg, der einzigen EM-Stadt, wo Spiele aus gleich zwei Gruppen ausgetragen werden, klingt Kuivalainen am Telefon dennoch zufrieden. Die Gesänge der finnischen Fans im Stadion gegen Russland waren nicht so laut, sie gingen ein bisschen unter, aber so ist es nun mal. Er war im Eisenbahnmuseum, schaute die übrigen Spiele in den Bars. Es sind inzwischen auch ein paar schwedische Fans da, trotz seit Donnerstag auch in Sankt Petersburg etwas verschärfter Maßnahmen wegen der steigenden Infektionszahlen.

Natürlich hat Kuivalainen das Spiel der Dänen gegen Belgien am Vorabend gesehen, das erste nach Eriksens Zusammenbruch, es war bislang der emotionale Höhepunkt des Turniers. Wie die dänischen Fans sangen, wie sie nach zehn Minuten gemeinsam mit den Spielern applaudierten, das konnte man auch am Fernseher nachfühlen. "Sehr beeindruckend", sagt er.

Zusammenfassend, findet er, sei das Erlebnis "besser, als wir gedacht haben". Trotz der Corona-Situation seien die Leute "nicht im Panik-Modus". Er selbst ist das auch nicht, er sei schon einmal geimpft, immerhin. Nach seiner Rückkehr nach Finnland werde er sich ein paar Tage freiwillig isolieren. Er glaubt noch an den Achtelfinaleinzug der Finnen, der Fanklub habe schon angefangen, den Mitgliedern Flüge anzubieten in die möglichen Spielorte Amsterdam, Bukarest und Sevilla. In Glasgow könnten sie wegen Quarantäne-Regeln nicht dabei sein.

Ob er selbst fliegen würde, weiß er noch nicht. Das Reisen, sagt er, fühle sich noch ziemlich ungewohnt an.

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