Gareth Southgate:Gekommen, um zu verschießen

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Der fatale Moment in der 119. Minute: Englands Trainer Southgate (von links) wechselt die zuvor kaum eingesetzten Angreifer Sancho und Rashford ein - fürs Elfmeterschießen. (Foto: Laurence Griffiths/Reuters)

Englands Trainer Gareth Southgate versündigt sich an der Psychologie des Spiels - eine unterschätzte Disziplin des Trainerwesens, die auch Jogi Löw stets zu schaffen machte.

Kommentar von Christof Kneer, München

Wahrscheinlich war es gut, dass das Elfmeterschießen nach je fünf Schützen endete. Denn Englands Trainer Gareth Southgate hätte die innere Logik, die er sich für diesen Wettbewerb offenbar ausgedacht hatte, nicht aufrechterhalten können. Die Dramaturgie folgte einem sehr innovativen Drehbuch: Southgates Hauptdarsteller wurden mit jedem Schuss jünger. Erst Marcus Rashford, 23, dann Jadon Sancho, 21, schließlich Bukayo Saka, 19 - als Nächster hätte nun unbedingt Jude Bellingham drankommen müssen, er ist gerade 18 geworden. Ihn allerdings hatte Southgate vergessen einzuwechseln.

Man hat leicht den Überblick verlieren können in den letzten Minuten dieses Turniers. Der eingewechselte Spieler Jordan Henderson wurde plötzlich wieder ausgewechselt. Der eingewechselte Spieler Jack Grealish humpelte ein wenig herum und blieb dann doch. Der Spieler Kyle Walker, ein Routinier, wurde ausgewechselt, kurz bevor Routine gefragt war. Es kamen Rashford und Sancho. Sie kamen, um zu verschießen.

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Von Sven Haist

Für neutrale Zuschauer ist es bestimmt schön, wenn ein Spiel am Ende wild und abenteuerlich wird. Nicht schön ist, wenn ein nicht neutraler Trainer seine Leute mutwillig in so ein Schlachtengemälde hetzt. Gareth Southgate, der 1996 selbst einen entscheidenden Elfmeter verschoss, hätte es besser wissen müssen.

Diese EM war ein Trainerturnier. Durchgekommen sind am Ende zwei Teams, die von ihren Trainern Roberto Mancini und Gareth Southgate über einen längeren Zeitraum eng begleitet und schlüssig komponiert wurden und sieben Turnierspiele lang den Eindruck erweckten, als könnten sie sich nichts Schöneres vorstellen, als alle miteinander Fußball zu spielen. Sieben Spiele abzüglich eines Elfmeterschießens, wie man jetzt sagen muss. Die Fallhöhe ist das Tragische an diesem Finale: Ausgerechnet der bisher so souveräne Southgate hat den 55 Jahre alten Traum seines Landes sabotiert - einfach nur, weil er mal kurz die Gruppe verlassen hat. Weil er - mutmaßlich in bester Absicht - Entscheidungen traf, die den psychologischen Naturgesetzen dieses Sports zuwiderlaufen.

Trainer müssen die Tiefenpsychologie ihrer Sportart erfassen, um erfolgreich zu sein

Die letzten Minuten dieses Finales sind es wert, künftig in allen Trainerlehrgängen der Welt gezeigt zu werden, weil sie eine unterschätzte Unterdisziplin des Trainerwesens verhandeln. In dieser Disziplin geht es nicht darum, ob ein Trainer siebenmal pro Spiel das System wechselt, es geht nicht um Trainingssteuerung oder mitreißende Motivationsreden. Es geht darum, das Spiel zu verstehen - nicht unter akademischen Aspekten, sondern mit allen Sinnen. Jedes Spiel hat seine eigenen Farben und Gerüche, es enthält geheime Zeichen und folgt unsichtbaren Weichen: Wer einmal falsch abbiegt, kommt nicht mehr zurück.

Der Trainer Southgate hat sich an der Psychologie des Spiels versündigt, für ein paar Momente nur, aber wenn es die entscheidenden Momente sind, kennt das Spiel keine Gnade. Spieler nur fürs Elfmeterschießen einzuwechseln, ist grundsätzlich keine gute Idee, weil es Spieler ohne Spielrhythmus unter Druck setzt - dies aber mit jungen Spielern zu tun, für die man im Turnier bisher kaum Verwendung fand, ist ein schwerer Fall von unterlassener Hilfeleistung. Und das alles auch noch in Wembley, vor den Augen der Welt und in Kenntnis der sporthistorischen Dimension: Diese Geschichte war einfach zu groß.

Es ist eine Erkenntnis dieser EM, dass Trainer die Tiefenpsychologie ihrer Sportart erfassen müssen, um erfolgreich zu sein. Wahrnehmungsschwierigkeiten dieser Art offenbarte auch Jogi Löw immer wieder - zuletzt, als er Kai Havertz unmittelbar nach dessen Tor gegen Ungarn auswechselte und Jamal Musiala gegen England viel zu spät einwechselte. Auch die Anordnungen des dänischen Coaches Kasper Hjulmand im Halbfinale gegen England richteten sich gegen den Sinn des Spiels; mit der Auswechslung der Stürmer Mikkel Damsgaard und Kasper Dolberg brach er ohne Not jene Wellen, die seine Elf hätten tragen können.

Es wird nun spannend sein zu beobachten, ob etwas kaputt gegangen ist zwischen Southgate und seinem Team oder ob sie ihr verlorenes Finale at home ähnlich nutzbar machen können wie der FC Bayern seine Niederlage im Elfmeterschießen 2012. Im Jahr darauf gewannen die Bayern die Champions League - auch Trotz gehört zur Psychologie des Spiels.

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