Deutsches Eishockey:"Das ist ein Meilenstein"

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Die Schweiz ausgehebelt, jetzt auf Medaillenkurs: Torhüter Mathias Niederberger (links) und Verteidiger Fabio Wagner (re. gegen den Schweizer Andres Ambühl). (Foto: Andrea Branca/Just Pictures/Imago)

Olympia-Quali geschafft, Zuschlag für die WM 2027 und nun die erste WM-Medaille seit 70 Jahren? Das deutsche Eishockey-Team weckt Träume. Selbst Bundestrainer Kreis bekommt feuchte Augen.

Von Johannes Schnitzler

Vorab eine wichtige Information: "Nach der Abstimmung werden wir eine Mittagspause machen. Das Essen wird im selben Raum serviert, wo es auch Frühstück gab." Erfahrungsgemäß würde es beim Jahreskongress des Eishockey-Weltverbandes IIHF am Freitag in Tampere nach dem nächsten Tagesordnungspunkt, dem letzten vor dem lunch break, gleich unruhig werden: Vergabe der Weltmeisterschaft 2027. Und so wies IIHF-Generalsekretär Matti Nurminen protokollgemäß darauf hin, wo es danach etwas zu spachteln geben würde; als Zeremonienmeister trägt man schließlich Verantwortung. Eine Minute hatten die Delegierten Zeit für ihr anonymes Votum, dann, um 10.59 Uhr, entfaltete IIHF-Präsident Luc Tardif den Zettel mit dem Ergebnis: 102 Stimmen für Deutschland, 34 für Kasachstan. Und nun: guten Appetit.

Drei Minuten später lagen die ersten Statements vor. "Das ist ein Meilenstein für den DEB", sagte Peter Merten, der Präsident des Deutschen Eishockey-Bundes. DEB-Generalsekretär Claus Gröbner, der das Konzept verantwortete, ließ wissen: "Die Freude ist riesengroß."

Deutschland im Halbfinale der Eishockey-WM
:Läck mir am Tschöpli!

Die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft zieht mit einem 3:1 gegen die Schweiz ins Halbfinale der Eishockey-WM ein. Gegen die USA geht es am Samstag um die erste WM-Medaille seit 70 Jahren.

Von Johannes Schnitzler

Drei Minuten zwischen Abstimmung und Pressemitteilung: Man darf unterstellen, dass der DEB da etwas vorbereitet hatte. Hätte man, wenn's schief gegangen wäre, in der Schublade lassen können. Aber die Zuversicht war doch groß, auch wenn Gröbner bis zuletzt von einem "offenen Rennen" gesprochen hatte.

Wenn nur alles mit so viel Vorlauf vorbereitet werden könnte, dürfte sich Bundestrainer Harold Kreis dieser Tage bei der WM in Tampere und Riga gedacht haben. Gegen das, was Kreis vor und während dieses Turniers erlebt hat, ist eine WM-Vergabe so berechenbar wie ein Bußgeld wegen zu hoher Geschwindigkeit im Baustellenbereich.

"Wir sind nicht abhängig von einem oder zwei Spielern", sagt Bundestrainer Kreis

Allein dieses Viertelfinale gegen die Schweiz. Geführt, Ausgleich kassiert, sechs Minuten Überzahl nicht genutzt, und dann muss Moritz Seider, Deutschlands bester Verteidiger, nach 31 Minuten mit einer Spieldauerstrafe vom Eis. Andere Mannschaften und Trainer haben da schon den Flatterich bekommen. Kreis aber sagte: "So was passiert. Wir sind nicht abhängig von einem oder zwei Spielern. Einer ist raus? Dann macht der nächste ein bisschen mehr." Dann schießen sie halt noch zwei Tore gegen das beste Team der Vorrunde, gewinnen 3:1, stehen nach 2010 und 2021 wieder im Halbfinale einer WM und haben die Chance auf die erste WM-Medaille seit 1953.

Kreis, 64, macht bei seiner ersten WM als Cheftrainer den Eindruck, als gäbe es nichts, was er nicht schon gesehen, nichts, was er nicht unter Kontrolle hätte. Dabei gab es einige Baustellen. Draisaitl, Grubauer, Stützle, Hager, Ehliz, Plachta - insgesamt 15 Absagen handelte er sich ein vor diesem Turnier. Aber Kreis weiß, wann er Gas geben kann und wann er bremsen muss. Er sagt: "Wir vertrauen den Spielern, die hier sind."

Gegen die Schweiz traf erst Maximilian Kastner, Typ Mauerspecht, der Löcher für andere reißt und eher selten selber glänzt. "Das 1:0 hat sicher geholfen", sagte Kreis, vor allem die Art, wie es fiel, wie Kastners Schuss dem Schweizer Goalie Robert Mayer durch die Ausrüstung kroch und hochkant ins Tor rollte, als wolle er sich nur mal umsehen, wie es jenseits der roten Linie so ist. Das erinnerte die Schweizer fatal daran, wie sie die vergangenen drei K.-o.-Duelle mit den Deutschen verloren hatten, die doch laut "Nati"-Trainer Patrick Fischer ein Problem mit der Schweizer Schnelligkeit haben sollten.

Seider out? Dann zaubern halt Dominik Kahun und John Peterka das 2:1 herbei, und 37 Sekunden später ist das Spiel entschieden, weil Wojciech Stachowiak, einer von acht Debütanten im deutschen WM-Kader, in Unterzahl Nico Sturm das 3:1 serviert.

Harold Kreis hat in diesen Tagen einmal zugegeben, dass er nicht immer so ruhig sei, wie er auf der Bank wirkt. Am Donnerstag, nach dem Einzug ins Halbfinale, sagte er mit feuchten Augen: "Ich bin gut aufgehoben bei dieser Mannschaft." Ein Satz, der verrät, dass dieser Trainer nicht nur seinem Team vertraut. Sondern dass auch er sich ihm anvertraut hat.

"Es gibt keine Egos", sagt der Kapitän, "der Teamgedanke kommt zuerst."

Kreis hatte vor dem Turnier harte Entscheidungen getroffen, auf Torjäger wie Dominik Bokk, Maxi Kammerer und Daniel Schmölz verzichtet und wurde dafür kritisiert. Er setzte NHL-Profi Peterka gegen Österreich im letzten Drittel auf die Bank, weil der "sein Spiel nicht so entfalten konnte". Kurz: Kreis demonstrierte Souveränität. Der Erfolg gibt ihm Recht. Trotz drei Niederlagen zum Auftakt hat die Mannschaft ihn nicht enttäuscht. Das Minimalziel Viertelfinale ist übererfüllt, Olympia-Qualifikation für 2026 abgehakt.

"Man kann es nicht befehlen. Man kann es nur hoffen, dass eine Mannschaft sich in der Kabine findet", sagte Kreis. "Dass sie so einen Spirit entwickelt, das freut mich riesig." Kapitän Moritz Müller sagte vorher, es werde Zeit brauchen, sich nach den Erfolgen mit Kreis' Vorgängern Marco Sturm und Toni Söderholm aufeinander einzulassen. Nun stellte er fest: "Wir sind eng zusammengewachsen in der kurzen Zeit. Es gibt keine Egos, der Teamgedanke kommt zuerst."

Vier Beispiele, zuvorderst: Nico Sturm, NHL-Profi, Stanley-Cup-Sieger. Gegen die Schweiz traf den 28-Jährigen ein Puck am Knie, Sturm rackerte trotz Schmerzen weiter. "In den letzten zehn Minuten habe ich meine Beine gar nicht mehr gespürt", sagte der Augsburger. "Ich habe mir nur noch irgendwelche Energie-Gels reingepfiffen." Mit sechs Turniertoren steht Sturm intern an der Spitze der Torschützenliste. Was nun möglich sei? "Alles."

Oder Peterka, 21, mit fünf Toren und fünf Vorlagen der drittbeste Scorer im Turnier: "Mein Puls war über 200, es war unglaublich, wie sich wirklich jeder in jeden Schuss geworfen hat, manchmal zu zweit, zu dritt, und was der Mathias alles rausgeholt hat." Der Mathias, Nachname Niederberger, der deutsche Torwart und in kritischen Situationen das Rückgrat der Mannschaft. Er sagt: "Mir liegt es, wenn es mal unangenehm wird. Wenn andere aufgeben würden, kann ich noch mal ein Stück tiefer graben und mehr rausholen." Oder Kai Wissmann, der unauffällige Verteidiger: Bei der WM vor einem Jahr überraschte er mit sieben Scorerpunkten. Die würde er "wieder nehmen", sagte er - nun steht er trotz Anlaufschwierigkeiten schon bei neun. Die Liste ließe sich um jeden der 25 Namen fortsetzen.

Nun also: Halbfinale, Samstag, 17.20 Uhr, gegen die USA. Warum läuft es diesmal besser als beim 2:3 in der Gruppenphase? "Weil wir offensiv Nadelstiche setzen und damit den Gegner in den Wahnsinn treiben können", sagt Niederberger. Weil "alle füreinander arbeiten", sagt Peterka, und "genug Jungs dabei sind, die wissen, wie sich das angefühlt hat", vor zwei Jahren, als sie im Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Finnland (1:2) die bessere Mannschaft waren und am Tag darauf im Spiel um Platz 3 den USA 1:6 unterlagen. Stimmt, sagt Moritz Müller, der damals bitterlich weinte, es sind noch einige von damals dabei: "Und die anderen wollen, glaube ich, auch gewinnen."

Am besten, man geht es so gelassen an wie Harold Kreis, der alles nimmt, wie es kommt. Was, 70 Jahre keine WM-Medaille mehr für Deutschland? "Okay, dann wär's mal wieder Zeit." Es ist angerichtet.

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