Eishockey:Ritter gegen Schmetterling

Lesezeit: 3 min

Fliegender Ritter: Golden Knights-Verteidiger Alec Martinez (rechts) kämpft gegen Montreals Artturi Lehkonen um den Puck. (Foto: John Locher/dpa)

Ältester Eishockey-Profiklub gegen jüngste Franchise der NHL: Das Halbfinale der Montréal Canadiens gegen die Vegas Golden Knights ist nicht nur sportlich ein Duell der Gegensätze.

Von Jürgen Schmieder, Las Vegas

Natürlich war das für die Montréal Canadiens erst einmal ein gewaltiger Schock: 15 Monate lang hatten sie wegen der kanadischen Coronavirus-Regeln ohne Zuschauer gespielt, seit Ende der ersten Playoff-Runde dürfen immerhin 2500 Leute in die heimische Arena - und dann mussten sie bei dieser ersten Halbfinal-Partie in Las Vegas zu Lasershow, Leuchtstöcken und der Lautstärke eines Rammstein-Konzerts aufs Eis - die Golden Knights inszenieren ihre Heimpartien als Ritterspiele. Nach diesem 1:4 wirkten die Canadiens wie Reiter, die von Rittern in goldener Rüstung aus dem Sattel gestoßen worden waren. Die zweite Partie hätte gegensätzlicher kaum sein können, die Canadiens führten schnell 3:0 und brachten den Vorsprung knapp über die Zeit. 3:2 hieß es am Ende, in der Best-of-seven-Serie steht es vor der Partie am Freitag in Montréal 1:1.

Die Serie ist ohnehin ein Duell der Gegensätze. Die Golden Knights gibt es erst seit vier Jahren, und sie spielen so, wie Besitzer Bill Foley den Leuten versprochen hatte: aggressiv, offensiv, blitzschnell - stets mit offenem Visier. Es machte ihnen in den ersten Playoff-Runden nicht viel aus, wenn sie auch mal mit zwei Toren in Rückstand waren; sie wussten, dass sie selbst innerhalb kurzer Zeit mehrere Treffer erzielen können, und das taten sie auch. Partien der Knights sind ein Spektakel in einer Stadt, die nur Spektakel kennt, die Golden Knights müssen sich wahrlich nicht hinter David Copperfield, Steve Aoki oder dem Cirque du Soleil verstecken.

Die Canadiens dagegen wurden im Jahr 1909 gegründet, sie sind der älteste Eishockey-Profiklub der Welt. Die Canadiens haben 24 Titel gewonnen, elf mehr als jeder andere Verein. Allerdings liegt die letzte Meisterschaft 28 Jahre zurück, das war auch die letzte eines kanadischen NHL-Klubs, Tradition schießt nun mal keine Tore. Die Canadiens sind am letzten Spieltag in die Playoffs gerutscht, mit den wenigsten Punkten aller Teilnehmer, kaum jemand erwartete auch nur einen Sieg gegen die Toronto Maple Leafs. Nun, es wurden vier, und es folgten vier Siege nacheinander gegen die Winnipeg Jets.

"Sie sind unangenehm", sagt Vegas-Stürmer Reilly Smith, und wenn man ihm zuhört, muss man daran denken, was Gegner über die griechische Fußball-Nationalelf auf dem Weg zu deren EM-Titel im Jahr 2004 gesagt hatten: "Die lassen dir keinen Raum, es ist irgendwie immer ein Fuß oder Stock dazwischen. Sie sind strukturiert und bissig in der Defensive. Sie warten in der Offensive geduldig auf ihre Chancen, und die nutzen sie dann auch." Es ist eine skurrile Mischung aus Forechecking und Zurückziehen, wie genau das funktioniert, war am Mittwoch zu bestaunen: Montréal zwingt die Gegner in deren Spieldrittel zu Fehlern, so fiel der erste Treffer. Gelingt das nicht, ziehen sie sich sehr weit zurück und kontern - das dritte Tor. Der zweite Treffer war das Beispiel für eine weitere Stärke: Bully im gegnerischen Drittel gewinnen, drei schnelle Pässe, Tor.

"Niemand glaubt an uns", sagt Canadiens-Stürmer Tyler Toffoli - "außer wir und unsere Fans"

Sie profitieren auch davon - wie jeder Verein, der seit 1893 den Stanley Cup gewonnen hat -, dass ihr Torhüter Carey Price in den Playoffs zum unüberwindbaren Schmetterling wurde. Er spielt seit Beginn der Profikarriere vor 14 Jahren in Montreal, war mit Kanada schon Weltmeister (2016) und Olympiasieger (2014). Er ist eine Canadiens-Legende, was angesichts der reichen Historie wirklich etwas heißen mag. Was ihm fehlt: der Stanley Cup. Der Schmetterling ("Butterfly") ist eine von vielen Torhütern bevorzugte Technik, sich bei Paraden auf die Knie fallen zu lassen und die Unterschenkel nach außen zu drücken, um möglichst viel Fläche abzudecken - die Beinschoner sehen dann aus wie Flügel. Die Golden Knights verzweifelten bei der Aufholjagd am kanadischen Schmetterling, Vegas-Kapitän Alex Pietrangelo sagte danach: "Wir haben mal wieder gezeigt, dass wir uns in kurzer Zeit viele Chance erspielen können - wir haben sie nur nicht genutzt."

Das Duell wirkt ein wenig, als hätte sich ein Nicht-Adliger zum Lanzenstechen geschlichen und würde nun den Ritter in strahlender Rüstung ärgern. Dazu passt, dass bei Canadiens-Trainer Dominique Ducharme immer noch ein "Interim" vor seiner Berufsbezeichnung steht. Er verantwortet die Mannschaft seit Februar, niemand glaubte zu diesem Zeitpunkt an den Titel, nicht mal die Verantwortlichen, zumal die Canadiens wegen ausgefallener Partien (Covid) in den 44 Tagen vor Beginn der Playoffs 25 Partien absolvieren mussten. Nun sind sie im Halbfinale, und es fühlt sich in Montreal an wie der letzte Stanley-Cup-Sieg 1993: elf Erfolge nacheinander, insgesamt zehn Siege nach Verlängerung.

"Niemand glaubt an uns - außer wir und unsere Fans", sagt Tyler Toffoli, der für das Ausnutzen der seltenen Chancen verantwortlich ist; in den vergangenen neun Partien hat er je mindestens ein Tor oder eine Vorlage geschafft: "Alles, was bislang passiert ist, die späte Qualifikation, die engen Partien, das Misstrauen der Experten: Das schweißt uns nur mehr zusammen." Freilich hilft dabei auch ein Sieg in der Spektakel-Festung von Vegas vor der Rückkehr nach Kanada. Immerhin: Am Freitag werden bereits 3500 Leute in die Arena in Montréal dürfen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: